Arbeitsstress: Schon kleine Anpassungen haben grosse Effekte
Ein Drittel der Arbeitnehmenden in der Schweiz fühlt sich emotional erschöpft. Soziale Berufe gelten dabei als besonders gefährdet. Was Arbeitnehmende tun können, um sich ausreichend zu regenerieren, welche Aufgabe dabei Arbeitgebende haben – und wie es sich anfühlt, wenn die Erschöpfung überhandnimmt.
Und plötzlich geht gar nichts mehr. Ihr ganzer Körper fühlt sich bleischwer an. Einen Schritt zu machen: unmöglich. Weshalb nochmals war sie hier, wohin hatte sie gehen wollen? Und warum konnte sie sich nicht mehr bewegen? Es ist ein Frühsommerabend im Jahr 2019, als Jasmin Schmid vor einem Supermarkt in Winterthur steht, zwei volle Einkaufstaschen neben sich, und all ihre Kraft verliert, jeglichen Halt, das Gefühl für Raum und Zeit. Wie lange sie handlungsunfähig dasteht, weiss sie nicht mehr, irgendwann ist es dunkel. Erst der Anruf ihres Mannes reisst sie aus der Erstarrung. «Das war der Tiefpunkt, der sich schon lange angekündigt hatte», sagt Jasmin Schmid heute. Die Sozialarbeiterin, die eigentlich anders heisst, wurde krankgeschrieben. Diagnose: Erschöpfungsdepression.
Soziale Berufe gelten als emotional herausfordernd
Zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung hatte Jasmin Schmid als Berufsbeiständin im Kindesschutz gearbeitet. «Wir hatten unter dem Strich zu viele Fälle für zu wenig Beistandspersonen», sagt sie. «Ich habe mich stark engagiert und Arbeit nach Hause genommen.» Eine Zeit lang funktionierte das irgendwie. Und sie funktionierte – irgendwie. Obwohl sie immer schlechter schlief, weil sie die Fälle auch nachts beschäftigten, obwohl ihr tagsüber oft schwindlig war. Mit ihrer Erschöpfung, die in der Depression gipfelte, ist Jasmin Schmid nicht allein. So zeigen die aktuellen Ergebnisse des «Job-Stress-Indexes», einer wissenschaftlichen Untersuchung der Gesundheitsförderung Schweiz: Fast ein Drittel der Arbeitnehmenden fühlt sich ziemlich bis sehr stark emotional erschöpft. So viele wie noch nie seit Beginn der Erhebung im Jahr 2014. Soziale Berufe wie jener von Jasmin Schmid gelten als emotional besonders herausfordernd und bergen ein erhöhtes Risiko, auszubrennen.
Psychische Widerstandskraft lässt sich steigern
Was also können Arbeitnehmende in diesen Berufsfeldern tun, um psychisch gesund zu bleiben? Mit dieser Frage beschäftigt sich Natalie Spalding, Dozentin am Departement Soziale Arbeit. Sie leitet einen CAS zum Thema Selbstmanagement und sieht darin einen Schlüssel, um mit Belastungen umzugehen. Der Begriff Selbstmanagement töne zunächst etwas technisch, sagt sie. «Aber das Wort Management impliziert etwas Wichtiges: Dass wir Handlungsspielraum haben, wenn es um Stress geht.» Das heisst: Wir können die individuelle Resilienz steigern, also die psychische Widerstandsfähigkeit. Und wir können lernen, herausfordernde Situationen im Berufsleben besser zu meistern.
«Möchten wir unser Selbstmanagement verbessern, müssen wir zuerst eigene Bedürfnisse erkennen.»
Ein gutes Selbstmanagement bedeutet laut Natalie Spalding, das Arbeitsleben bewusst, eigenverantwortlich, werte- und bedürfnisorientiert zu gestalten. «Möchten wir unser Selbstmanagement verbessern, müssen wir zuerst eigene Bedürfnisse erkennen.» Ein Thema, das häufig auftauche, sei Informationsmanagement: der Umgang mit auf uns einprasselnden Nachrichten. Hier könne es sich zum Beispiel lohnen, zu überlegen, ob das Mailprogramm ständig geöffnet sein müsse. «Wichtig ist dann, zu reflektieren, was hinter gewissen Mustern steckt. Bei diesem Beispiel könnte es der Glaubenssatz sein, dass wir ständig erreichbar sein müssen», sagt Natalie Spalding. Einmal erkannt, werden die Stressfaktoren angegangen. Mails können etwa gezielt nur noch zwei Mal täglich abgerufen werden. Ebenfalls wichtig für ein gutes Selbstmanagement: richtige Pausen zu machen, diese als Ausgleich zum Tagesrhythmus zu gestalten und sich klar darüber zu werden, was man als Pause braucht – Ruhe, Gesellschaft, Bewegung oder Entspannung. «Oftmals erzielen kleine Anpassungen in der Tagesgestaltung und der inneren Haltung schon beachtliche Effekte», sagt die Dozentin.
«Es ist wie bei einer Waage»
Nicht nur Arbeitnehmende können Stress und Belastungen reduzieren. Auch Arbeitgebende sind hier gefordert. «Es ist wie bei einer Waage», sagt Irene Etzer-Hofer, Leiterin der Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement am ZHAW-Departement Gesundheit. «Wenn auf der einen Seite die Belastungen bei der Arbeit zunehmen, können wir zwar auf der anderen Seite die individuellen Ressourcen der Arbeitnehmenden stärken. Aber irgendwann reicht das nicht mehr für eine Balance.» Deshalb sei zentral, dass sich Betriebe aktiv für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen engagieren. «Es braucht eine Unternehmenskultur, welche die rasanten Veränderungen der Arbeitswelt mit passenden Massnahmen aufgreift.»
«Es sollten erstens gesunde Rahmenbedingungen geschaffen werden, zum Beispiel mit flexiblen Arbeitsformen für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.»
Damit Betriebliches Gesundheitsmanagement wirksam und nachhaltig ist, benötige es Massnahmen auf mehreren Ebenen. «Es sollten erstens gesunde Rahmenbedingungen geschaffen werden, zum Beispiel mit flexiblen Arbeitsformen für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.» Zweitens müssten mit Massnahmen im Bereich der Personal- und Führungsentwicklung auch die arbeitsbezogenen Kompetenzen der Mitarbeitenden gestärkt werden. Das heisst etwa, die Mitarbeitenden werden unterstützt im Umgang mit der digitalen Transformation. «Und schliesslich sind auch klassische Angebote zur Förderung der Gesundheitskompetenzen wichtig. Diese haben einen positiven Einfluss auf alle Lebensbereiche», sagt Irene Etzer-Hofer. Gemeint sind damit etwa psychologische Beratung oder Achtsamkeitskurse, wie sie auch an der ZHAW angeboten werden (siehe Box).
Eine gute Teamkultur ist zentral
Eine gute Teamkultur ist laut der Dozentin zentral. Sowohl wenn Mitarbeitende Anzeichen einer Erkrankung zeigen als auch wenn jemand nach einer Erkrankung wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden soll. Und: «Zur Verminderung des Risikos für schwierige Wiedereingliederungen empfiehlt sich oft die zielgerichtete Begleitung durch externe Organisationen», sagt Irene Etzer-Hofer.
Bei Jasmin Schmid war die Wiedereingliederung zunächst nicht erfolgreich. Kaum zurück am Arbeitsplatz, war sie mit derselben Arbeitslast konfrontiert wie vor der Depression – nach erneuter Krankschreibung zog sie die Konsequenzen. Heute arbeitet die Sozialarbeiterin in einer Institution, die auf dasselbe Wert legt wie sie selbst: unter anderem auf die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden.
Lernen, im Moment zu sein: Mindfulness@ZHAW
Bei Prüfungsangst und Unruhe, bei Termindruck und Unkonzentriertheit: Achtsamkeit kann dabei helfen, sich zu entspannen und Momente der Ruhe zu finden, wenn alles gerade etwas (zu) viel ist. Auch zur Prävention von Stress können Achtsamkeitsübungen beitragen. Bei diesen geht es im Kern darum, zu lernen, ganz im Moment zu sein, etwa mit Atemübungen. Seit der Pandemie bieten die ZHAW-Departemente Angewandte Psychologie und School of Management and Law unter dem Namen Mindfulness@ZHAW gemeinsam Achtsamkeitskurse an. Ein Team rund um Jennifer Bagehorn, Dozentin und Forscherin an der School of Management and Law, führt mehrmals wöchentlich Mindfulness-Sessions auf Zoom durch. Die 20-minütigen Sessions sind gratis und richten sich an Studierende, Mitarbeitende, Alumni und andere Interessierte. Zum Semesterstart finden jeweils Einführungsveranstaltungen statt, in denen Hintergrundwissen über Mindfulness und mentale Gesundheit vermittelt wird.
Das Team arbeitet mehrheitlich ehrenamtlich. Und stellt fest, dass das Bedürfnis für das Angebot klar da ist: «Bislang haben wir nur positive Rückmeldungen erhalten», sagt Jennifer Bagehorn. «Eine Studierende hat uns beispielsweise geschrieben, dass sie Übungen schon oft angewendet hat, um Angstzustände und Panikattacken zu vermindern, besonders vor Prüfungen.»
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