Aus Testpersonen werden Co-Forschende
Menschen mit Sehbehinderung oder im Autismus-Spektrum, Opfer von Gewalt: Forschende an der ZHAW beziehen Betroffenengruppen mitunter direkt in Studien ein. Sie sagen, warum das wichtig ist, und was sie dabei beachten.
Wenn es darum geht, soziale Wirklichkeit und professionelles Handeln darin zu erforschen, sollen die Sicht und die Erfahrungen betroffener Menschen einfliessen. «Denn sie sind die Expertinnen und Experten ihres Lebens», hält Lea Hollenstein fest, Dozentin am Institut für Sozialmanagement des ZHAW-Departements Soziale Arbeit. Sie forscht unter anderem zur Beratung gewaltbetroffener Frauen, zur Opferhilfe und zur Prävention sexualisierter Gewalt in Einrichtungen. Da genüge es nicht, Fachleute rund um die Betroffenen zu befragen: «Menschen, die Gewalt erlebt haben, verfügen über eine eigenständige Perspektive.»
«Betroffene sind Expertinnen und Experten ihres Lebens.»
Lea Hollenstein betreibt qualitative Forschung, führt also Interviews durch, oft auch narrativ-biografischer Art. Ihre Gegenüber findet sie in Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Opferhilfe oder Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt. Das sei wegen der sensiblen Thematik anspruchsvoll, sagt sie, ohne Vertrauensbasis gehe es nicht. Andererseits schätzten es Gewaltbetroffene, «endlich gehört zu werden in ihrem Leid», und willigten deshalb ein, an einer Studie teilzunehmen. Ähnliche Erfahrungen macht Dirk Baier, Professor und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention am gleichen Departement. Er forscht unter anderem zu häuslicher Gewalt und arbeitet quantitiv, erhebt also Daten und wertet diese aus.
Hilft beim Verstehen
Laut Baier ist die Bereitschaft, sich zu eigenen Gewalterfahrungen zu äussern, gegeben. Einschränkend sei aber davon auszugehen, «dass Personen, die engmaschig von ihrem Partner oder ihrer Partnerin kontrolliert werden, nicht teilnehmen.» Der Wissenschaftler hält es aus mehreren Gründen für wichtig, die Betroffenenperspektive zu integrieren. Unter anderem helfe sie zu verstehen, welche Merkmale und Bedingungen mit der Entstehung von Gewalt in Paarbeziehungen zusammenhängen. Aus dem gleichen Grund wäre es gemäss Baier notwendig, zusätzlich Tatpersonen zu befragen. Doch dies sei methodisch noch aufwändiger.
«Betroffenenperspektiven zu integrieren ist aus vielen Gründen wichtig.»
Wie barrierefrei digitale Informationsprodukte für Menschen mit Behinderung sind, dazu forscht Birgit Fuhrmann, operative Leiterin des Forschungs- und Arbeitsbereichs Technikkommunikation am Departement Angewandte Linguistik. Sie führte am Beispiel der ZHAW-Website eine Studie durch, an der zwölf Personen mit einer Sehbehinderung teilnahmen. Zwar gebe es technische Instrumente, um Zugänglichkeit und Nutzungsfreundlichkeit zu testen, sagt sie: «Doch im Falle einer Sehbehinderung können das nur die tatsächlichen Web-Nutzerinnen und -Nutzer beurteilen.» Denn diese verwenden je nach Grad der Sehbehinderung Hilfsmittel wie Apps zum Zoomen oder Screenreader, die Inhalte als Sprach- oder Braille-Ausgabe wiedergeben. «Wir gewannen Aufschluss darüber, was auf der Website für sie nicht gut funktioniert», so Fuhrmann.
Ethik-Check unerlässlich
Wer mit vulnerablen Gruppen forscht, muss bestimmte Rahmenbedingungen beachten. Gewaltforscher Dirk Baier hält es inzwischen für unerlässlich, die Genehmigung einer Ethikkommission einzuholen: «Diese weist auf blinde Flecken hin, auf Punkte, die man eventuell nicht ausreichend beachtet hat.» Das sei hilfreich, um eine Forschung durchzuführen, die nicht zusätzlichen Schaden anrichtet. So besteht bei Befragungen zu Gewalt ein Risiko der Retraumatisierung. Um dieses zu minimieren, «führen wir immer Vorgespräche durch», erklärt Lea Hollenstein. Darin wird thematisiert, wie die Forschenden eine Retraumatisierung erkennen würden, und was in einem solchen Moment zu tun wäre.
Wenn nötig vermittelt Hollenstein Hilfsangebote. Als frühere Sozialpädagogin bringt sie viel Erfahrung im Umgang mit Betroffenengruppen mit und schult vor bestimmten Befragungen ihre Mitforschenden. Technikkommunikations-Forscherin Birgit Fuhrmann verfolgte für ihre Web-Studie einen Coaching-Ansatz. Das im Nebenraum beobachtende Forschungsteam konnte Hinweise geben, wenn eine Testperson gar nicht weiterkam. Das sei bei «Usability»-Tests nicht üblich, weiss Fuhrmann. Für sie zeigt sich: «Herkömmliche Forschungsverfahren müssen teilweise angepasst werden.» Dies sieht auch Ergotherapie-Forscherin Beate Krieger so, die Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung interviewte (siehe Box).
«Herkömmliche Forschungsverfahren müssen teilweise angepasst werden.»
Betroffene direkt in die Forschung einzubeziehen bringt Wissenszuwachs. Ergebnisse können in die Gewaltprävention einfliessen, in gute soziale oder therapeutische Arbeit, in diskriminierungsfreies Webdesign. Doch es gehe auch um ein an der Menschenwürde orientiertes Menschenbild, um Inklusion und Teilhabe, unterstreichen ZHAW-Forschende. Birgit Fuhrmann verweist auf die UN-Behindertenrechtskonvention, in der das Recht auf Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie verankert sei. «Frauen, die Gewalt erfuhren, erhalten eine Stimme im Diskurs», fügt Lea Hollenstein an. Beide erwähnen noch weitergehende Formen der Partizipation, bei denen Betroffene selber dem Forschungsteam angehören.
Doch wie behalten die Forschenden den unabhängigen, möglichst objektiven Blick? «Ob bei Opfer- oder Täterbefragungen: Zwischen mir und der Gewalttat liegt gewöhnlich ein Fragebogen», antwortet Dirk Baier. Als Wissenschaftler systematisiere und abstrahiere er, das schaffe Distanz. Was die inklusive Forschung betrifft, führt die Teilnahme Betroffener laut Birgit Fuhrmann durchaus zum Nachdenken über Haltungen: «Die sehbehinderten Menschen in unserer Studie brachten eine Expertise ein, die dem Forschungsteam fehlte.» Der Begriff «Testperson» habe nicht mehr gepasst, sie seien phasenweise zu Co-Forschenden geworden.
Zum Blog-Beitrag über Usability-Studie mit sehbehinderten Menschen
Wie erreicht man Menschen im Autismus-Spektrum?
Mit welchen Anpassungen am Arbeitsplatz können sogenannt neurodivergente Menschen unterstützt werden? Dazu forschen Clara Weber, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gruppe Betriebsökonomie und Human Resources am Departement Life Sciences and Facility Management der ZHAW, und Beate Krieger, Ergotherapie-Dozentin am Departement Gesundheit. «Neurodivergenz oder Neurodiversität sind nichtstigmatisierende Oberbegriffe», erklärt Clara Weber, «beispielsweise für die Autismus-Spektrum-Störung, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS und weitere Besonderheiten.»
Betroffene sind häufig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Das liegt laut Weber oft nicht an mangelnder Eignung, sondern an Barrieren in der Arbeitswelt. Lärm, Licht, Hektik, Enge: «In einer Arbeitsumgebung mit zu vielen Reizen kommen neurodivergente Menschen schneller an ihre Grenze als neurotypische Menschen.» Lange sei versucht worden, Betroffene durch Therapien und Coachings fürs Erwerbsleben fit zu machen. «Arbeitsrechtlich gesehen sollte der Arbeitsplatz für die Nutzenden passend sein», betont jedoch Weber, etwa durch das Bereitstellen von Ruheräumen. Um mehr dazu herauszufinden, befragte Ergotherapie-Forscherin Beate Krieger auch schon Autismus-Betroffene selber. Und erfuhr unmittelbar, wie wichtig die Umgebung ist.
Forschung kaum bereit
So fühlte sich ein Studienteilnehmer bei einem Interview am wohlsten im Übungsraum hinter seinem Schlagzeug, die Forscherin dreissig Meter entfernt. Eine Teilnehmerin unterbrach das Interview, weil sie ein Parfüm in der Nähe nicht ertrug. Mit manchen musste Krieger sich dreimal treffen, «bis die Bedingungen für ein ruhiges, vertieftes Gespräch passten.» Forschung mit vulnerablen Gruppen sei aufwändiger als üblich, stellt sie fest, doch dem werde nicht genug Rechnung getragen. Sei es in der Forschungsplanung und -finanzierung oder in der Publikation von Ergebnissen, wenn Fachzeitschriften wegen zu kleiner Stichproben abwinkten: «Dabei sind Menschen im Autismus-Spektrum schwer zu erreichen.»
Auch gesetzliche ethische Standards in der Schweiz genügten für diese Art von Forschung nicht, da sie auf medizinisch-klinische Versuche ausgerichtet seien. Doch die beiden ZHAW-Wissenschaftlerinnen, die ihr Thema erstmals interdisziplinär beleuchten, sind von partizipativen Herangehensweisen überzeugt. «Nur so lernen wir die Wahrnehmung neurodivergenter Menschen kennen», sagt Beate Krieger. Das sei im Hinblick auf die Umsetzung in der Arbeitswelt essenziell. Dort können laut Clara Weber Unternehmen von den Talenten neurodivergenter Mitarbeitender profitieren. Beispielsweise von ihrer Hyperfokussierung, also der Fähigkeit, sich hochkonzentriert einer Aufgabe zu widmen.
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