Vorurteile können fatale Folgen haben

05.12.2023
4/2023

Erlernte Stereotype prägen unser Denken. Im medizinischen Umfeld können sie dazu führen, dass Patientinnen und Patienten mit identischen Beschwerden unterschiedlich behandelt werden. «Sich dessen bewusst zu sein, ist ein erster Schritt zu weniger Diskriminierung», sagt Ursula Meidert, die zu «unconscious bias» forscht.

Dicke Menschen gelten als undiszipliniert. Zugewanderte werden als krimineller eingeschätzt als Einheimische. Männer werden eher in der Chefrolle gesehen als Frauen. Das menschliche Hirn assoziiert blitzschnell. Manche Zuschreibungen geschehen bewusst, andere unbewusst. «Solche tief verwurzelte Denkmuster beeinflussen unser Verhalten», sagt Ursula Meidert vom Institut für Public Health.

Im Gesundheitswesen können Vorurteile fatale Folgen haben. So kommt es vor, dass Patientinnen und Patienten – je nach physischen Merkmalen oder Eigenschaften – unterschiedlich behandelt werden und gesundheitliche Nachteile erleiden. «Das widerspricht dem Grundsatz, dass Personen bei gleichen medizinischen Sachverhalten die gleiche Behandlung erfahren sollten.»

Die Soziologin hat sich in den letzten zwei Jahren im Rahmen einer 40-Prozent-Forschungsstelle in das Thema vertieft. Sie kommt zum Schluss, dass sogenannte «unconscious biases» im medizinischen Umfeld weit verbreitet sind. Sie lassen sich bei der Ärzteschaft ebenso nachweisen wie beim Pflegepersonal. Andere medizinische Berufsgruppen sind von der Forschung bislang zwar weniger berücksichtigt worden. Doch die vorhandenen Studien dokumentieren voreingenommenes Denken beispielsweise auch bei Fachpersonen aus Ergotherapie, Physiotherapie und bei Hebammen. «Da sind keine Unterschiede auszumachen.»

Stereotype ersparen dem Gehirn Arbeit

Solche schnellen Kategorisierungen ersparen dem Gehirn bei wiederkehrenden Entscheidungen Arbeit. Sie geben bei Unsicherheiten Orientierung. Sie dienen gewissermassen als Abkürzung. «Diese Fähigkeit ist wahrscheinlich eine evolutionäre Entwicklung, die helfen sollte, das Überleben zu sichern», sagt Ursula Meidert und fährt fort: «Es ist spannend, welche Macht unbewusste Einstellungen haben. Wir denken, dass wir logisch handeln. Doch die Forschung zeigt deutlich, dass das häufig nicht so ist.»

«Wir denken, dass wir logisch handeln. Doch die Forschung zeigt deutlich, dass das häufig nicht so ist.»

Ursula Meidert, Institut für Public Health am Departement Gesundheit

Zuschreibungen ergeben sich in erster Linie daraus, wie eine Person aussieht, auftritt und kommuniziert. Sie basieren auf Merkmalen wie der Hautfarbe, dem Geschlecht, dem Alter, dem Gewicht oder dem sozioökonomischen Status. «Gewisse Stereotype sind universell», hält Meidert fest. Tatsächlich werden Frauen weltweit anders wahrgenommen als Männer. Sie werden vom Gesundheitspersonal beispielsweise als wehleidiger eingestuft. Sie müssen folglich länger warten, bis ihnen Schmerzmittel verschrieben werden, und erhalten weniger starke Medikamente. Frauen werden seltener zu zusätzlichen Abklärungen aufgeboten als Männer mit denselben Beschwerden. Ihre Leiden werden zudem häufiger psychosomatisch erklärt.

Diskriminierung aufgrund der Herkunft

Auch die Herkunft eines Menschen kann zu Diskriminierungen führen. Gut belegt sind rassenbedingte Vorurteile in den USA. People of Colour werden in den Vereinigten Staaten weniger aufwendig untersucht und behandelt als weisse Menschen. Sie haben ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe und sterben früher. Solche Benachteiligungen sind auf historische sowie kulturelle Wertungen zurückzuführen. Sie werden durch Sozialisation erlernt.

In anderen Weltregionen lassen sich negative Einstellungen gegenüber anderen ethnischen Minderheiten feststellen. In der Schweiz sind beispielsweise Migrantinnen und Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien davon betroffen. «Das medizinische Personal diskriminiert nicht bewusst», betont Ursula Meidert. Je eindeutiger eine Diagnose sei, desto seltener kämen unbewusste Einstellungen zum Tragen. Gehe es zum Beispiel darum, ein künstliches Kniegelenk einzusetzen, spiele die Herkunft einer Person keine Rolle.

Zeitdruck macht anfällig, in Kategorien zu denken

Anders sei es, wenn Unsicherheit herrsche und beispielsweise die Ursache von Schmerzen nicht klar ausgemacht werden könne. Dann kämen andere Aspekte der Person, die eigentlich nichts mit der Erkrankung zu tun hätten, wie das Geschlecht oder die Herkunft ins Spiel. «Je entscheidender die Kommunikation ist, desto stärker wirkt sich ‘unconscious bias’ aus.» Studien belegen des Weiteren, dass sich eine hohe kognitive Belastung, Zeitdruck und Müdigkeit auswirken. Sie machen Menschen anfälliger dafür, nach erlernten Kategorisierungen zu handeln.

«Sich zu hinterfragen und die eigenen Stereotype zu kennen, ist ein erster Schritt zu weniger Diskriminierung.»

Ursula Meidert, Institut für Public Health

Wer sich mit den eigenen Denkmustern auseinandersetzen will, kann einen Impliziten Assoziationstest (IAT) machen. Im Internet ist eine breite Palette zu finden, die verschiedene Faktoren berücksichtigt. Den Studierenden des Moduls «Gesundheit und Geschlecht» empfiehlt Meidert jeweils, sich mit Geschlechterstereotypen zu befassen. «Sich zu hinterfragen und die eigenen Stereotype zu kennen, ist ein erster Schritt zu weniger Diskriminierung», so die Dozentin. Gesundheitsfachpersonen sollten sich ihren Ausführungen nach möglichst von Fakten leiten lassen. Sie sollten sich für eine Diagnose Zeit nehmen, sich in die Lage des Gegenübers versetzen und sich bei Unsicherheiten mit einer anderen Fachperson austauschen. «So gelangt man zu besseren Einschätzungen.»

Diverse Teams und ein Code of Conduct

Die Wissenschaftlerin plädiert dafür, Teams divers zusammenzusetzen. So seien unterschiedliche Prägungen und Perspektiven vertreten. Mitarbeitende könnten sich mit Menschen aus anderen Lebenswelten austauschen und voneinander lernen. «Es werden bessere Entscheidungen getroffen.» Wichtig sei es zudem, dass sich Institutionen in einem Code of Conduct dazu verpflichteten, alle Patientinnen und Patienten gleich zu behandeln. Dies gebe Orientierung. In der Aus- und Weiterbildung sollte das Thema mehr Raum erhalten und das Personal müsse in der Kommunikation mit vulnerablen Gruppen ‒ wie Minderheiten ‒ geschult werden.

In einer nächsten Studie will Ursula Meidert untersuchen, wie verbreitet «unconscious bias» beim Gesundheitspersonal in der Schweiz ist. Am Institut für Public Health hat sie bereits angeregt, dass Leistungsnachweise nicht mehr mit dem Namen der Studierenden, sondern mit deren Matrikelnummer gekennzeichnet werden. An einer internen Veranstaltung im Dezember soll weiter darüber diskutiert werden, wo erlernte Stereotypen im Hochschulalltag vorkommen und was man dagegen tun kann. «Jeder hat unbewusste Vorurteile», sagt sie. Entscheidend sei, sich deren bewusst zu werden und einen guten Umgang damit zu finden.»

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