«Von oben herab forscht man nicht mehr»

05.12.2023
4/2023

Die Angewandte Psychologie in Zürich blickt dieses Jahr auf ihre 100-jährige Geschichte zurück. Christoph Steinebach, Direktor des Departements Angewandte Psychologie, erläutert Entwicklung, Möglichkeiten und Grenzen der psychologischen Forschung.

Herr Steinebach, wie hat sich die psychologische Forschung in den letzten Jahren verändert?

Christoph Steinebach: Die grösste Veränderung liegt in den Möglichkeiten durch neu aufgekommene Tools. Beispielsweise kann modernste neurowissenschaftliche Forschung mit psychologischen Fragestellungen verbunden werden. Dank der Digitalisierung werden zunehmend Daten fortlaufend und direkt erhoben, etwa mit einer App, die auf dem Smartphone dreimal pro Tag einen kurzen Fragebogen aufpoppen lässt. Auch forschen wir zunehmend in und mit virtuellen Räumen. So verfügen wir an der ZHAW über einen Fahrradsimulator.

Führen diese Möglichkeiten zu mehr Ergebnissen?

Dank «Big Data» verarbeiten wir grössere Mengen an Daten und nutzen die Welt von Google als Plattform. Dabei stellt sich die Frage, wie man alles zusammenbringt. Was dazu geführt hat, dass wir über mehr Metaanalysen verfügen, die im Prinzip über Forschungsprojekte und -ergebnisse forschen. In diesen Metaanalysen geht es beispielsweise darum, diese Ergebnisse statistisch zusammenzufassen, womit sich der Forschungsstand eines Themas bewerten lässt.

Christoph Steinebach ist Professor für Angewandte Entwicklungspsychologie und seit 2007 an der ZHAW tätig. Als Direktor leitet er das Departement Angewandte Psychologie. Zudem ist er in verschiedenen Gremien tätig. Er wird im Sommer 2024 pensioniert und plant, dann wieder mehr Zeit in die Forschung zu investieren.

Wächst dadurch das Vertrauen in die psychologische Forschung?

Grundsätzlich ja. Viele finden unsere Forschungsergebnisse spannend, sie lesen sie, sagen aber auch manchmal: «Kaum zu glauben.» Forschung überrascht zuweilen mit unerwarteten Ergebnissen, was Widerstand auslösen kann. Dass sich viele Resultate psychologischer Studien nicht replizieren lassen, hat dem Fachgebiet einen gewissen Vertrauens­verlust beschert. Aber es gibt auch gute Gründe dafür.

Welche?

Menschen und Einstellungen verändern sich über Generationen hinweg. Vieles von dem, was in den 1950er Jahren erforscht wurde, gilt heute nicht mehr. Oder es bestehen Unterschiede zwischen befragten Gruppen. Aber es braucht Spielregeln, damit es nicht zu Verzerrungen oder zur Beeinflussung von Ergebnissen kommt.

«Bei sensiblen Forschungsthemen versuche ich Menschen aus der Zielgruppe in das Projekt einzubeziehen. Das ist auch eine ethische Haltung.»

Christoph Steinebach, Direktor des Departements Angewandte Psychologie

Welche Spielregeln?

Klassischerweise ist Forschung objektiv, also nicht ungewollt durch Involvierte beeinflusst; reliabel, was bei wiederholter Durchführung zu zuverlässigen Ergebnissen führt; und valide, was gegeben ist, wenn gemessen wird, was gemessen werden soll. Neu muss auch deutlich sein, wer für den Forschungsprozess verantwortlich ist, wie und welche Daten erhoben wurden und wo sie verfügbar sind, sodass auch Dritte darauf zurückgreifen und nachrechnen oder mit den Daten weiterarbeiten können. Auch muss ausgewiesen werden, welche Entscheidungen in welchen Phasen getroffen wurden. Es herrscht mehr Transparenz, was sicher den Aufwand erhöht. Auch die sicher berechtigte Sorge um den Datenschutz macht es nicht einfacher. Manche Teilnehmenden sind skeptisch und beantworten gewisse Fragen nicht, was das Ergebnis verzerren kann.

Was muss noch bei der Forschung mit Menschen berücksichtigt werden?

Transparenz und Konsens – die Beteiligten müssen wissen, was warum gemacht wird. Den zu Befragenden biete ich an, sie über die Ergebnisse zu informieren. Bei sensiblen Forschungsthemen versuche ich, Menschen aus der Zielgruppe in das Projekt einzubeziehen. Wir klären gemeinsam, was gute Fragen sind und mit welchen Ansätzen man dem Thema gerecht wird. Das ist auch eine ethische Haltung. Aus der Distanz und von oben herab forscht man nicht mehr.

Psychologische Forschung ist oft Auftragsforschung – begrenzt sie das?

Auftragsforschung hat den Vorteil, dass sich damit Zielgruppen erschliessen lassen, mit denen man gar nicht in Kontakt kommen würde. Man arbeitet mit Leuten zusammen, die an der Umsetzung interessiert sind. Mit den Daten sind zudem Analysen möglich, die über die Fragestellung des Auftraggebers hinausgehen. Idealerweise kann man eigene Interessen einbringen und die Auftraggebenden davon überzeugen, dass sie zusätzliche Fragestellungen zulassen. Wenn das nicht gelingt, muss man Abstriche machen.

«Ich hoffe nicht, dass es in der Schweiz Forschende gibt, die bestimmte Themen nicht anpacken, weil sie die Reaktionen fürchten.»

Christoph Steinebach, Professor für Angewandte Entwicklungspsychologie

Welche Grenzen kennt die angewandte Forschung?

Dank Fördermitteln gibt es viele Möglichkeiten, national und international an spannenden Projekten zu arbeiten. Ich sehe aber ein fachhochschulspezifisches Problem: Viele, die an der ZHAW als Dozierende oder wissenschaftliche Mitarbeitende tätig sind, sind stark in der Lehre engagiert, es bleibt wenig Zeit für Forschung. Oft kann man das nur nebenher machen. Hier existiert Luft nach oben.

Hat die psychologische Forschung blinde Flecken?

In der Forschungsförderung hat man Linien, die auf Themenfelder oder gesellschaftliche Fragestellungen zugeschnitten sind – etwa die Förderung von Mental Health. Hier passen viele Themen. Es gibt aber auch solche, bei denen es schwierig ist, Förderung zu erhalten. Wichtige und spannende Fragestellungen liegen im Schatten der Aufmerksamkeit. So etwa fliessen relativ wenig Mittel in die Verkehrs- oder die Sportpsychologie.

Gibt es auch Themen, von denen man lieber die Finger lässt, weil sie zu heikel sind?

Ich hoffe nicht, dass es in der Schweiz Forschende gibt, die bestimmte Themen nicht anpacken, weil sie die Reaktionen fürchten. Bei uns sind Forschende diesbezüglich gut geschützt. In anderen Gesellschaften muss man mit gewissen Forschungsgegenständen vorsichtig sein, etwa bei Diversity, Gender oder LGBTQ.

Wo sind Sie als Forscher an Grenzen gestossen?

Eine Grenze ist die Zeit. Als Direktor eines Departements mit vielfältigen Anliegen und Aufgaben ist es schwer, kontinuierlich in einem Forschungsthema unterwegs zu sein. Gerne hätte ich zur Resilienzförderung über die Lebensspanne hinweg mehr geforscht. Für dieses relevante und attraktive Thema bietet die ZHAW ein gutes Umfeld. Eine wichtige Frage wäre etwa, wie wir Resilienz umfassend im Alltag einer Hochschule fördern können.

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