Forschungsethik: Kontrolle gut, alles gut?

05.12.2023
4/2023

Studien mit Kontrollgruppen, bei welchen ein Teil der Testpersonen eine neue Behandlung erhält und ein Teil nicht, gelten in den Humanwissenschaften als «Goldstandard». Die Ausschlusskriterien und das Vorenthalten der neuesten Behandlung in der Kontrollgruppe werfen jedoch in der ergotherapeutischen und physiotherapeutischen Forschung ethische Fragen auf.

Herr K. hat jahrelang auf Baustellen schwerste körperliche Arbeit verrichtet. Heute leidet er unter chronischen Schmerzen und auch an einer Depression. Eine neue ergotherapeutische Behandlung, die gerade getestet wird, könnte Herrn K. helfen. Er ist jedoch als Teilnehmer ausgeschlossen. Zum einen reichen seine Deutschkenntnisse nicht für den Austausch mit den anderen Studienteilnehmenden aus, zum anderen erschwert seine doppelte Diagnose den Nachweis der Wirksamkeit der untersuchten Behandlung.

Strenge Ausschlusskriterien

Randomisierte kontrollierte Studien, kurz RCT, gelten als «Goldstandard» der Studiendesigns in den Humanwissenschaften. Testpersonen werden nach dem Zufallsprinzip auf eine Experimentalgruppe, die die neue Behandlung erhält, und eine Kontrollgruppe, die keine oder eine Standardbehandlung bekommt, verteilt. Der Einsatz einer Kontrollgruppe erlaubt, die Wirksamkeit einer neuen Behandlung besonders gut festzustellen. Dabei gilt: Je grösser der Kontrast zwischen der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe ist, desto eindeutiger das Forschungsergebnis.

«Die Studien mit Registerdaten haben den Vorteil, dass sie der Realität besser entsprechen.»

Brigitte Gantschnig, Professorin für Evaluation und Assessment an der ZHAW

Was aus Sicht der Forschung sinnvoll ist, ist in ethischer Hinsicht nicht zwangsläufig unbedenklich: Durch strikte Ein- und Ausschlusskriterien und den Einsatz von Kontrollgruppen werden Menschen Behandlungen vorenthalten, die ihre Beschwerden vermindern könnten, für sie weniger belastend oder weniger kostspielig wären. Zwei ethische Fragen stellen sich deshalb mitunter bei ergotherapeutischer und physiotherapeutischer Forschung: Dürfen Personen aufgrund persönlicher Merkmale oder ihrer Diagnose im Vornherein aus Testversuchen ausgeschlossen werden? Und: Ist das Vorenthalten der neuesten Behandlungsmethode, wie sie in Kontrollgruppen erfolgt, ethisch zulässig? 

Alternativen haben es schwer

Für Brigitte Gantschnig, Professorin für Evaluation und Assessment in der Ergotherapie an der ZHAW, sind RCT vor allem deshalb problematisch, weil sie meistens mit sehr strengen Ein- und Ausschlusskriterien einhergehen. Dadurch werden Personengruppen von den Studien ausgeschlossen, die im klinischen Alltag oft anzutreffen sind. Oft sind es Personen mit gleichzeitig verschiedenen Diagnosen wie chronischem Schmerz und Depression, die einen hohen Therapiebedarf haben. Die Forscherin sieht daher Forschung mit Daten aus gesundheitsbezogenen Registern für ihre Arbeit als eine wichtige Alternative. Diese basieren auf systematisch gesammelten gesundheitsbezogenen Daten und übernehmen wichtige Funktionen in der Überprüfung von Versorgungsqualität, Wirksamkeit und Kostenwirksamkeit bei gesundheitsbezogenen Leistungen. «Die Studien mit Registerdaten haben den Vorteil, dass sie der Realität besser entsprechen, keine Klientengruppe ausgeschlossen werden muss und auch die langfristige Wirkung von Behandlungen untersucht werden kann.» Dass diese Studien mit Patientenregistern eher die Ausnahme als die Regel sind, ist Brigitte Gantschnig zufolge darauf zurückzuführen, dass RCT als Studiendesign in den Humanwissenschaften systematisch vorgezogen wird. «Forschungsanträge für Interventionsstudien, die kein RCT-Design aufweisen, werden im Begutachtungsprozess in der Schweiz schlechter bewertet als jene mit. Die Studie wird dann entweder nicht finanziert oder die Forschenden werden darauf hingewiesen, dass sie eine Kontrollgruppe planen sollen», so Brigitte Gantschnig.

Weniger Risiken für Testpersonen

Für die Ethikkommission des Kantons Zürichs (KEK) stehen bei der Beurteilung von RCT in ethischer Sicht andere Fragen als die oben genannten im Vordergrund. Der Einsatz von Kontrollgruppen bedeutet für KEK nicht automatisch, dass Testpersonen in der Kontrollgruppe keine wirksame Therapie erhalten. Auch stellt der Ausschluss von Testpersonen aufgrund persönlicher Merkmale oder einer komplexen Diagnose ihrer Ansicht nach nicht zwangsläufig eine Benachteiligung dar. Gut überlegte Ausschlusskriterien schützen Personen, die voraussichtlich vom untersuchten Verfahren nicht profitieren beziehungsweise dadurch geschädigt würden.

Bei der Beurteilung der Forschungsvorhaben sei immer die Forschungsfrage ausschlaggebend für die Wahl der Methodik: «Bei Interventionsstudien, die den Nutzen oder den Schaden einer Behandlung erforschen, sollte in der Regel eine Kontrollgruppe eingesetzt werden. Bei nichtinterventionellen Beobachtungsstudien zur Bestimmung von Krankheitsursachen oder Risikofaktoren sind andere Studiendesigns in der Regel geeigneter, wie beispielsweise Kohortenstudien, bei welchen zwei Gruppen wie ‘Raucher’ und ‘Nichtraucher’ beobachtet und verglichen werden», sagt Annette Magnin, Geschäftsführerin der Zürcher Ethikkommission.

«Der Einsatz von Kontrollgruppen erlaubt nicht nur einen klareren Nachweis der Wirksamkeit, sondern er ermöglicht auch Aussagen zur Sicherheit.»

Annette Magnin, Geschäftsführerin der Zürcher Ethikkommission

Für die KEK stellt sich daher nicht die Frage, ob Kontrollgruppen an sich ethisch zulässig sind. Es könne genauso gut sein, dass der Verzicht auf Kontrollgruppen ethische Probleme aufwerfe. «Der Einsatz von Kontrollgruppen erlaubt nicht nur einen klareren Nachweis der Wirksamkeit einer Intervention, sondern er ermöglicht auch Aussagen zur Sicherheit der Experimentalgruppe, weil ein Abgleich mit der Kontrollgruppe erfolgt. Auf diese Weise können unerwünschte Effekte besser erkannt werden», so Annette Magnin.

Auswege aus dem Dilemma

Auch in der physiotherapeutischen Forschung werden kontrollierte Studien RCT vorgezogen, weil sie eine gute Kontrolle der verschiedenen Einflüsse erlauben und sich auch dann noch die Wirksamkeit einer Intervention feststellen lässt, wenn sich die neue Behandlungsmethode nur wenig von der Standardbehandlung unterscheidet. Für Markus Wirz, Professor und Leiter des Instituts für Physiotherapie an der ZHAW, bieten Spezialformen der RCT einen Ausweg aus den ethischen Problemstellungen: «Bei Stepped-Wedge-Studien, die eine sequenzielle Einführung einer Intervention unter den Teilnehmenden vorsehen, erhalten alle Testpersonen früher oder später die experimentelle Behandlung. Die Kontrollgruppe erhält sie lediglich zeitversetzt. Dadurch ist sie gegenüber der Experimentalgruppe nicht benachteiligt.»

«Spezialformen der RCT bieten einen Ausweg aus den ethischen Problemstellungen.»

Markus Wirz, Leiter des Instituts für Physiotherapie

Studien mit nur einem oder einer Teilnehmenden, sogenannte N-of-1-Studien, bieten gemäss Wirz eine Lösung für das Problem der strengen Ausschlusskriterien. Eine Testperson erhält zunächst die Standardtherapie und nach einer bestimmten Zeit die experimentelle Therapie. «Bei diesem Studiendesign kann im Prinzip jede Person, die sich für die Therapie interessiert, eingeschlossen werden», so Wirz. Zwar seien N-of-1-Studien hinsichtlich des Nachweises der Wirksamkeit einer Methode weniger aussagekräftig als Studien mit mehreren Testpersonen, aber sie liessen sich gut mit dem klinischen Alltag vereinbaren und seien in der Durchführung weniger kostspielig.

Verschiedene Arten von Methoden der Forschung an Menschen

  • Randomisierte kontrollierte Studien (englisch: randomized controlled trials, RCT) sind Studien zur Messung der Wirksamkeit einer neuen Intervention oder Behandlung. Sie heissen «kontrolliert», weil sowohl eine Experimentalgruppe als auch eine Kontrollgruppe zum Einsatz kommen. Die Personen der Experimentalgruppe erhalten die Behandlung, während diejenigen der Kontrollgruppe eine Schein-Intervention (Placebo) oder die Standardtherapie erhalten oder auch gänzlich unbehandelt bleiben. Durch eine zufällige Verteilung von Testpersonen auf die experimentelle Gruppe und die Kontrollgruppe wird sichergestellt, dass die festgestellten kausalen Zusammenhänge nicht einer bewussten Auswahl von Personen geschuldet ist.
  • Patientenregister erfassen Daten zum Krankheits- und Behandlungsverlauf von Personen, die eine bestimmte Erkrankung aufweisen. Die gesammelten Informationen haben zum Ziel, Erkrankungen in langfristiger Perspektive besser zu verstehen und die Wirkung von Therapien zu untersuchen. Die Teilnahme ist freiwillig.
  • Kohortenstudien sind vorausschauende oder rückblickende Studien. Zwei (oder mehrere) Gruppen, die verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sind, werden dabei über einen längeren Zeitraum beobachtet. Ziel ist es, mehr über Risiken und Krankheitsursachen in Erfahrung zu bringen.
  • Stepped-Wedge-Studien sind eine Spezialform der RCT. Die Testpersonen werden zunächst eine Zeit lang unter Kontrollbedingungen und später bis zum Ende der Studie unter Interventionsbedingungen beobachtet. 
  • N-of-1-Studien. Bei N-of-1-Studien wird eine Behandlung an einer einzigen Testperson getestet, dabei wechselt die Person aus der Kontrollgruppe in die Experimentalgruppe oder umgekehrt. N-of-1-Studien haben eine geringere Aussagekraft über die Wirksamkeit einer Behandlung als Studien, die an mehreren Testpersonen durchgeführt werden.  

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