Wohnen im Alter

Autonom zu Hause leben – und gut umsorgt sein

22.03.2022
1/2022

Die meisten Menschen möchten trotz altersbedingter Einschränkungen in der eigenen Wohnung bleiben. Sorgende Gemeinschaften sollen das vermehrt ermöglichen. ZHAW-Forschende erklären, was darunter zu verstehen ist. Das Alterswohnen wird sich verändern. 

Die 89-jährige Frau ist verwitwet und lebt in einem Stadtquartier. Draussen benötigt sie eine Gehhilfe, auch die Augen haben nachgelassen. Trotzdem lebt sie in der eigenen, bezahlbaren Wohnung und pflegt Kontakte, dies dank Unterstützung von verschiedenen Seiten. Das Mittagessen bezieht sie vom Mahlzeitendienst eines nahen Pflegeheims. Der Sohn steht ihr bei administrativen Angelegenheiten zur Seite, die Spitex kommt vorbei. Jeden Morgen klopft eine Nachbarin vom Haus an die Tür, um zu schauen, wie es ihr geht.

«Orchestriertes Kümmern»

Und mehrmals wöchentlich erhält sie Besuch von Freiwilligen aus dem Quartier: Eine jüngere Rentnerin geht mit ihr spazieren und einkaufen, eine Studentin begleitet sie zum Arzt, hilft ihr mit dem Tablet, liest aus der Zeitung vor. Vermittelt wurden die Ehrenamtlichen von der Nachbarschaftshilfe, die die städtische Quartierarbeit gemeinsam mit Pro Senectute, der Kirchgemeinde und der Spitex aufgebaut hat. Bei Fragen rund ums Wohnen und Älterwerden können sich die 89-Jährige und ihre Angehörigen zudem an eine Anlaufstelle wenden, die sie durch den Angebotsdschungel lotst, vom Fahr- bis zum Entlastungsdienst.

«Gemeint ist eine Zivilgesellschaft, deren Mitglieder sich umeinander kümmern, jede und jeder Einzelne ist gefordert.»

André Fringer, ZHAW-Institut für Pflege

Sorge-Netzwerke wie in diesem modellhaften Beispiel gelten als zukunftsträchtiger Weg, um mit der alternden Gesellschaft umzugehen. Die Wissenschaft spricht von «Caring Communities», sorgenden Gemeinschaften. Gemeint ist eine Zivilgesellschaft, deren Mitglieder sich umeinander kümmern. Gefordert seien «jede und jeder Einzelne», sagt André Fringer, Professor für Pflegewissenschaft am Institut für Pflege der ZHAW. Beteiligt sind aber auch Fachorganisationen, die zusammenarbeiten, sowie Gemeinden, die Projekte anstossen. Fringer spricht von «proaktivem und orchestriertem Kümmern». 



Dort, wo sie daheim sind

Die Politik reagiert vor allem mit Gesundheitsversorgung auf die wachsende Zahl älterer Menschen. «Das wird jedoch nicht funktionieren», stellt Fringer fest. Die Probleme liegen auf dem Tisch: Fachkräftemangel in der Pflege, steigende Kosten. Kommt dazu: Die meisten älteren Menschen benötigen eher Alltagshilfe als ein Pflegebett. 85 Prozent der über 80-Jährigen in der Schweiz leben in Privathaushalten, eine Minderheit wohnt im Pflegeheim. Töchter und Schwiegertöchter – im traditionellen Rollenbild lange fürs Kümmern zuständig – sind heute berufstätig oder wohnen weiter weg. Zugleich wünscht sich die grosse Mehrheit der Älteren sehnlich, so lange wie möglich autonom zu wohnen.

Pflege und Soziale Arbeit gemeinsam

Um dies zu fördern, sei eine neue gesellschaftliche Haltung erforderlich, sagt der Pflegewissenschaftler. Das professionelle Versorgungssystem folge einer ökonomischen Logik und sei auf akute Gesundheitsereignisse ausgerichtet. Gefragt sei aber Sorge in einem umfassenderen Sinn, für ältere, chronisch kranke, hochaltrige und sterbende Menschen – dort, wo sie daheim seien. Mit der «Gemeindeschwester» gab es die Sorgekultur vor einigen Jahrzehnten noch, heute gilt es mit sogenannter gemeindenaher integrierter Versorgung daran anzuknüpfen. Diese bildet einen Schwerpunkt im ZHAW-Institut für Pflege, doch laut Fringer kann keine Berufsgruppe die Aufgabe allein wahrnehmen. So wird die Pflege unter anderem vermehrt mit der Sozialen Arbeit zusammenwirken.

«Altersgerecht bedeutet mehr als Hindernisfreiheit: Die gesamte Wohninfrastruktur sollte altersgerecht sein.»

Susanne Hofer, ZHAW-Institut für Facility Management

Mehrere Pioniergemeinden und -institutionen in der Schweiz haben den neuen Ansatz entdeckt. Nötig sei eine Vielfalt der Modelle, sagt der Wissenschaftler, angepasst an die lokalen Strukturen. So wie beim Projekt «Älter werden im Quartier» in der Stadt Wil (SG). Dort geht die gemeinnützige Thurvita AG neue Wege. Die Pflegeheimbetreiberin gehört der Stadt und umliegenden Gemeinden. Zusammen mit der katholischen Kirchgemeinde realisiert sie im Ortsteil Bronschhofen eine Überbauung mit Alterswohnungen. Die ältere Mieterschaft wird aber nicht abgesondert leben, sondern eingebettet in ein Quartierzentrum: Es sind auch Wohnungen für Familien und Singles im Bau, dazu ein Restaurant, ein Laden.

Sicherheit durch Sensoren

Ist Pflege nötig, werden die Alterswohnungen vom hauseigenen Spitex-Stützpunkt betreut, sogar bei hohem Pflegebedarf. «Die Ansprüche der älteren Menschen verändern sich», stellt Susanne Hofer fest, Professorin für Facility Management mit Spezialgebiet Facility Management in Healthcare an der ZHAW. Pflegeeinrichtungen seien ökonomisch gefordert, neue Versorgungslandschaften mit Dienstleistungen auch für zu Hause lebende Ältere im näheren Umfeld zu schaffen. Hofer und Mitforschende untersuchten anhand der Thurvita, wie dabei digitale Assistenzlösungen eingesetzt werden können. Denn altersgerecht bedeute heute mehr als Hindernisfreiheit: «Die gesamte Wohninfrastruktur sollte altersgerecht sein.»

«Sicherheit ist beim Seniorenwohnen elementar.»

Paul Schmitter, ZHAW-Institut für Facility Management

Der leicht zu bedienende Kochherd, um angelieferte Mahlzeiten aufzuwärmen, Bestellmöglichkeiten fürs Essen und den Wäschedienst, Notfallkontakt und Bewegungssensoren, die Alarm schlagen, wenn jemand stürzt und liegen bleibt – auch solches gehört dazu. «Sicherheit ist beim Seniorenwohnen elementar», fügt Mitautor Paul Schmitter an. Die Fallstudie zeigte unter anderem auf, dass spezielle Kompetenzen bei den Dienstleistern vonnöten sind. Dadurch eröffne sich dem Facility Management ein neues Berufsfeld. Mit anderen Worten: Auch die Gebäudebewirtschaftung ist gefragt, wenn es darum geht, dass ältere Menschen vermehrt zu Hause leben können.

Hilfe via Quartier-App

Digital haben viele Ältere längst aufgeholt und Berührungsängste verloren, gerade auch in der Pandemie-Zeit. So können lokale Online-Plattformen dazu genutzt werden, um Kontakte und gegenseitige Hilfe zu organisieren. Das zeigt ein grenzübergreifendes Forschungsprojekt rund um den Bodensee zum Thema «Technik im Quartier», an dem das Institut für Facility Management der ZHAW beteiligt war. Acht Quartiere in der Schweiz, Deutschland und Österreich wurden begleitet. Bis so ein Netzwerk steht, brauche es allerdings sehr viel Arbeit und Engagement, bilanziert Schmitter.

Pflegewissenschaftler André Fringer pflichtet bei: Eine sorgende Gemeinschaft entsteht nicht von heute auf morgen. Mit dem Älterwerden der Babyboomer, also der Jahrgänge 1946 bis 1964 in der Schweiz, verändert sich vieles, glaubt Fringer. Nicht nur bilden sie ein Riesenpotenzial für ehrenamtliche Einsätze, weil sie meist fit und einsatzfreudig in Rente gehen. Auch hätten die 68er unter ihnen schon einmal gesellschaftliche Muster aufgebrochen: «Nun werden sie auch das Wohnen im Alter neu definieren.»

1 Kommentar

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  • R

    Ralph Jordi
    27.04.2022, 18.00
    Sehr geehrte Damen und Herren, besten Dank für diesen interessanten Blick in eine wünschbare Zukunft! Ergänzend dazu bin ich der Meinung, dass auch einfach bedienbare Technologien den älteren Menschen dabei helfen werden, länger zu Hause zu leben. Wir haben dafür auf Basis eines Sprach gesteuerten Systems eine vor konfigurierte Assistentin als Service aufgebaut. Schauen Sie doch mal bei uns vorbei www.livinginplace.ch. Freundlichst Ralph Jordi CEO Living in Place GmbH