Das Gesundheitswesen mit KI schlauer machen
Künstliche Intelligenz übernimmt bereits heute im Gesundheitswesen spezifische Aufgaben. Technisch wäre noch viel mehr möglich – allerdings braucht es dafür gesetzliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Akzeptanz, wie der neueste Digital Health Report der ZHAW darlegt.
Es ist das Jahr 2050 und die Toiletten in den meisten Schweizer Haushalten sind vernetzt – mit dem Internet of Medical Things (IoMT). Sensoren in den Schüsseln analysieren Urin und Stuhlgang und schicken eine Meldung an die Smartwatch, falls gewisse Werte auffällig sind. Daten erfasst auch das smarte Pflaster – es schlägt Alarm, wenn Stoffwechselwerte anormal sind. Die Vitalwerte werden von Wearables und implantierten Mikrochips erfasst und an eine App gesendet, in der alle Gesundheitsdaten einer Person gesammelt werden. Die App wiederum vereinbart wenn gewünscht gleich einen Termin bei einer Spezialistin. In den Spitälern übernehmen Künstliche Intelligenzen (KI) einen Grossteil der Datenanalyse und sind auch in der Diagnostik und als Unterstützung im Operationssaal nicht mehr wegzudenken.
Diese Vision ist keine Utopie, sondern eine realistische Prognose des künftigen Gesundheitswesens in der Schweiz. Skizziert wird sie von Fachleuten aus dem Gesundheitswesen im 4. Digital Health Report (DHR) der ZHAW, der im Herbst erscheint.
KI macht andere Technologien schlauer
Der DHR beschreibt Nutzen und Risiken von Digital Health, aber auch die Treiber und Hürden. Die Autorinnen und Autoren haben dabei fünf Technologiegruppen mit «disruptivem Innovationspotenzial» identifiziert: Das IoMT, Robotik, Virtual/Augmented Reality (VR/AR), Blockchain und Künstliche Intelligenz (KI). Letztere wird dabei «als Schlüssel zum Brückenschlag über verschiedene Technologien hinweg» bezeichnet. «KI ist eine Querschnitttechnologie», sagt Christian Russ, Experte für Strategisches IT-Management und Digitale Technologien an der ZHAW School of Management and Law. Der Mitautor des DHR sieht «spannende Kombinationen von KI, etwa mit Robotik oder AR und VR». KI mache andere Technologien anwendbarer und schlauer. «Sie ist immens wichtig für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens.»
«Im Gesundheitswesen ist KI in spezifischen Bereichen schon weit verbreitet und akzeptiert, etwa bei der Sprach-, Text- und Bilderkennung in der Administration.»
Und entwickeln muss sich das Schweizer Gesundheitswesen angesichts steigender Kosten, des demografischen Wandels, des Personalmangels und nicht zuletzt vieler offener medizinischer Fragen. Technologien alleine können diese Probleme zwar nicht lösen, sagt Russ. Doch: «Sie steigern massiv die Effizienz. KI-Anwendungen etwa können redundante Aufgaben übernehmen, Datenfehler vermeiden und das Personal spürbar entlasten.»
Rein technisch ist vieles möglich
Eine der Grundvoraussetzungen, damit sich KI und andere Technologien im Gesundheitswesen umfassender einsetzen lassen, ist deren gesellschaftliche Akzeptanz. Diese wird im Bericht als «Wollen» bezeichnet, neben dem technologischen «Können» und dem regulatorischen «Dürfen». Beim «Können» seien der Fantasie kaum Grenzen gesetzt, so Russ. «Die Frage ist mehr, wie weit wir finanzieren können. » Beim «Wollen» zeigt sich gemäss DHR in der Schweizer Bevölkerung eine grosse Offenheit gegenüber der Digitalisierung. Und: «Im Gesundheitswesen ist KI in spezifischen Bereichen schon weit verbreitet und akzeptiert, etwa bei der Sprach-, Text- und Bilderkennung in der Administration», sagt Russ und verweist auf eine repräsentative Umfrage bei Spitälern, die im Rahmen einer von ihm betreuten Weiterbildungsmasterarbeit durchgeführt wurde.
Ernüchternde Situation beim «Dürfen»
Ernüchternder ist die Situation dagegen beim «Dürfen». «Da stecken wir hierzulande noch in den Kinderschuhen», sagt Russ. Es gebe zwar Bemühungen einzelner Akteurinnen und Akteure, «aber keine umfassende nationale Stossrichtung». Gut möglich, dass sich die Schweiz an der EU orientiere und deren Regelungen im autonomen Gesetzesnachvollzug übernehme. «Die EU arbeitet schon länger an gesetzlichen und ethischen Rahmenbedingungen für den Einsatz von KI im Gesundheitswesen.» Was die gesetzlichen Grenzen dieses Einsatzes angehe, müsse zwischen der Regulierung und der Wettbewerbsfähigkeit abgewogen werden, sagt Russ und nennt als Beispiel die Europäische Medizinprodukteverordnung, die auch für medizinische Softw-are gilt. «Die Verordnung ist notwendig. Sie stellt aber eine hohe Hürde insbesondere für Startups dar.» So sei die Zertifizierung und Qualitätssicherung medizinischer Software sehr kostspielig. Bei KI-Anwendungen komme hinzu, dass der Nachweis der Funktionsweise oft schwierig sei. «KI in Form von Machine Learning gleicht häufig einer Black Box.»
«Wie Wasser seinen Weg findet, so wird KI ihren Weg ins Gesundheitswesen finden. Die Frage ist, wie wir das Wasser leiten wollen.»
Für Russ ist das Risiko einer nicht mehr kontrollierbaren Superintelligenz in ferner Zukunft deshalb nicht komplett abwegig. Damit die Vision nicht zum Schreckensszenario wird, brauche es neben dem gesetzlichen Rahmen sowie der gesellschaftlichen Debatte viel Aufklärungsarbeit über Potenzial und Risiken von KI. Und der Entscheid, was KI dürfe und was nicht, müsse fortlaufend von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik diskutiert werden. Wie Wasser seinen Weg findet, so werde KI ihren Weg ins Gesundheitswesen finden. «Die Frage ist, wie wir das Wasser leiten wollen.»
ZHAW treibt KI im Gesundheitswesen voran
Bildgebung, Übersetzungstool, Therapiehilfe: In verschiedenen Bereichen entwickelt oder evaluiert die ZHAW KI-Anwendungen. Eine Auswahl.
- Bessere Bildqualität – bessere Strahlentherapie: Bei der Bestrahlung von Tumoren spielt die Cone-Beam-Computertomografie (CBCT) eine wichtige Rolle. CBCT-Scanner erstellen während der Behandlung 3D-Bilder der Anatomie, damit ein Tumor möglichst genau bestrahlt werden kann. Das Problem von CBCT: Bewegungen des Patienten, etwa durch die Atmung, führen zu Bildartefakten. Forschenden der School of Engineering ist es in Kooperation mit der Firma Varian Medical Systems gelungen, mit KI diese Bildartefakte zu eliminieren. «Sie verbessert die Bildqualität deutlich, wie eine Evaluation durch klinische Expertinnen und Experten bestätigt hat», sagt Frank-Peter Schilling, Co-Projektleiter des von Innosuisse geförderten Projekts DIR3CT. Die KI habe das Potenzial, dank der genaueren Tumorbestrahlung die Überlebenschancen von Patientinnen und Patienten zu erhöhen. Das laufende Folgeprojekt AC3T, an dem auch mehrere südkoreanische Partner beteiligt sind, zielt darauf ab, die schädliche Bestrahlung durch CBCT-Scanner zu minimieren. So soll mit KI die Anzahl Bilder und damit Scans, die für die Tumorbestrahlung notwendig sind, reduziert werden.
- Mit KI Bewegungen in Therapien korrigieren: Nach einem Schlaganfall müssen Betroffene oftmals Bewegungen neu erlernen. Eines der Probleme dabei sind Ausweichbewegungen aufgrund der Einschränkungen. «Solche Bewegungen können aber neue Beschwerden, etwa Gelenksabnutzungen, hervorrufen», sagt Martina Spiess vom Departement Gesundheit. Zusammen mit weiteren Forschenden am ZHAW-Institut für Ergotherapie und der ZHAW School of Management and Law sowie externen Partnerinnen und Partnern entwickelt sie ein KI-basiertes Messinstrument, mit dem Ausweichbewegungen erkannt und deren Schweregrad gemessen werden kann. Anhand der alltäglichen Trinkbewegung wird mithilfe von Deep Learning ein Algorithmus trainiert. «Therapeutinnen und Therapeuten erkennen zwar, ob eine Kompensation vorliegt oder nicht», so Spiess. KI sei aber viel schneller im Assessment und könne Ausweichbewegungen objektiver und anhand einer Skala beurteilen. «Damit kann sie auch feinere Veränderungen im Laufe der Therapie erkennen.» Ziel des Projekts ist ein kostengünstiges Tool, das Patientinnen und Patienten etwa mit dem Smartphone auch zu Hause nutzen können.
- Weniger Missverständnisse dank maschineller Übersetzung: Das Schweizer Gesundheitswesen ist längst multinational – sowohl auf Patientinnen- und Patienten- als auch auf Personalseite. «Das hat Sprachbarrieren und damit Missverständnisse und mögliche Behandlungsfehler zur Folge», sagt Caroline Lehr vom Departement für Angewandte Linguistik. Gemeinsam mit Anne Catherine Gieshoff hat sie untersucht, welche KI-Übersetzungstools im Gesundheitswesen genutzt werden, welche davon geeignet sind und wo ihr Einsatz sinnvoll ist. «Das Potenzial der Tools ist gross. Sie können wertvolle Zeit sparen.» Allerdings bestehe das Risiko fehlerhafter Übersetzung und dass sich die Gesprächspartner zu fest auf das Tool fokussierten. «Die nonverbale und paraverbale Kommunikation kann dabei vergessen gehen.» Laut Lehr sind heutige KI-Übersetzungshilfen geeignet für einfache und wenig emotionale Gespräche. «Sobald die Kommunikation komplexer, emotionaler und auch folgenreicher ist, reichen sie nicht aus.» Resultat des abgeschlossenen Projekts ist eine Entscheidungshilfe für den Einsatz maschineller Übersetzung.
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