Simulationen

Operieren ohne Risiko üben

19.09.2023
3/2023

Das Innosuisse-Flagship-Projekt «Proficiency», an dem die ZHAW School of Engineering beteiligt ist, modernisiert die chirurgischen Weiterbildungen in der Schweiz von Grund auf. Der Paradigmenwechsel kommt allen zugute – den Spitälern, den angehenden Chirurginnen und Chirurgen und nicht zuletzt den Patientinnen und Patienten.

Würden Sie bei einer Operation einen angehenden Chirurgen, eine angehende Chirurgin einen Eingriff an Ihrem Körper üben lassen? Die meisten Menschen dürften die Frage, wenn überhaupt, wohl mit einer gewissen Skepsis bejahen. Doch auf die Bereitschaft der Patientinnen und Patienten war man in der Ausbildung in der Vergangenheit angewiesen: Im Modell «See one, do one, teach one» eigneten sie sich das Handwerk an, indem sie einen Eingriff erst beobachteten, diesen dann selbst durchführten und ihn schliesslich Mitstudierenden vorführten. Das sei längst nicht mehr zeitgemäss, wie Bruno Schmied vom Kantonsspital St.Gallen (KSSG) sagt. «Der Ansatz geht zulasten der Patientinnen und Patienten, die einem Risiko ausgesetzt werden», sagt der Chefarzt Chirurgie. Ausserdem koste das Assistieren viel Zeit. «Eine OP, bei der assistiert wird, dauert 20 bis 30 Prozent länger», erläutert Schmied. «Das geht immens ins Geld – denn der OP-Saal ist der teuerste Ort in einem Spital.»

Flagship-Projekt von Innosuisse

Das KSSG leitet als eine von drei klinischen Partnerinnen das 2022 gestartete Projekt «Proficiency», mit dem die chirurgische Ausbildung in der Schweiz umfassend modernisiert wird. Hand in Hand mit einer umfassenden Aktualisierung der entsprechenden Curricula werden die Weiterbildungen für angehende Fachärztinnen und -ärzte mit modernsten Simulationstechnologien wie Virtual-Reality-Anwendungen (VR), Augmented-Reality-Brillen (AR) oder High-End-Simulatoren bis Anfang 2025 komplett neu gestaltet. An dem Innosuisse-Flagship-Projekt, das von der nationalen Innovationsagentur mit 12 Millionen Franken gefördert wird, sind neben den drei Spitälern mehrere Unternehmen sowie die ZHAW, die ETH Zürich und die Universität Zürich (Balgrist) beteiligt.

«Das Setting ermöglicht  zudem, Eingriffe zu üben, die bei echten Menschen zuerst die Ethikkommission bewilligen müsste.»

Helmut Grabner, ZHAW School of Engineering

«Die im Programm integrierten Technologien eröffnen ganz neue Möglichkeiten», sagt Helmut Grabner von der ZHAW School of Engineering. Der Professor für Data Analytics and Machine Learning und stellvertretende Leiter des ZHAW-Teilprojekts nennt als Beispiel die High-End-Infrastruktur im Operating Room X (OR-X) an der Universitätsklinik Balgrist. Die Simulationsinfrastruktur in dem hypermodernen Lehr- und Forschungszentrum erlaubt die realitätsgetreue Ausbildung und das Training von Ärztinnen und Ärzten. «Hier können sie sich die chirurgischen Skills ohne Risiken aneignen. Das Setting ermöglicht  zudem, Eingriffe zu üben, die bei echten Menschen zuerst durch die Ethikkommission bewilligt werden müssten.»

Nachbildungen von Organen

Neben High-End-Plattformen wie dem OR-X umfasst das Projekt auch einfachere Anwendungen, etwa Box Trainer. Dabei handelt es sich um Nachbildungen von Organen oder Körperregionen, an denen beispielsweise minimalinvasive Eingriffe geübt werden können. In Kombination mit einem Smartphone oder Laptop können solche Box Trainer auch zu Hause verwendet werden und stellen damit eine niederschwellige Trainingsmöglichkeit dar. «Das Projekt Proficiency sieht vor, dass angehende Chirurginnen und Chirurgen beim Einüben eines Eingriffs eine Journey durchlaufen – von Low-End- hin zu High-End-Simulationen», erklärt Philipp Ackermann, ZHAW-Projektleiter und stellvertretender Leiter für Human-Centered Computing an der School of Engineering. Chirurgische Eingriffe liessen sich mit dem Gitarrenspielen vergleichen. «Das Handwerk lernt man nicht durchs Zuschauen – man muss üben, üben, üben.» Erst durch das wiederholte Durchführen von Handgriffen bildeten sich die Muscle Memory und damit auch die Fähigkeiten, die Chirurginnen und Chirurgen im OP benötigten.

Die Simulationen für verschiedene Eingriffe werden von den Unternehmen und den Hochschulen gemeinsam entwickelt. Die ZHAW nehme dabei eine «Brückenfunktion» ein, sagt Ackermann. «Wir arbeiten etwa die von der ETH entwickelten Algorithmen ins Projekt ein.» Zudem ist das Team der School of Engineering für das Tracking der chirurgischen Instrumente in den Simulationen zuständig. «Wir sorgen dafür, dass die Instrumente in AR oder VR korrekt verortet sind.» Ausserdem arbeitet das Team am Grading der Bewegungen, also an Skalen, mit denen die Bewegungen während eines Eingriffs abgestuft beurteilt werden können. «Das Grading ermöglicht ein datenbasiertes und damit objektives Feedback – mit Proficiency kommt man weg vom ärztlichen Urteil, bei dem das Risiko von Willkür und Zufälligkeit besteht», führt Helmut Grabner aus.

Nach Anfangsinvestitionen günstiger

Für Chefarzt Bruno Schmied werden die Assistenzärztinnen und -ärzte die Hauptgewinner des neuen Ausbildungsmodells sein – nicht nur, weil es eine faire Beurteilung erlaubt. «Mit der Standardisierung kann man das Beste aus allen angehenden Chirurginnen und Chirurgen herausholen. Sie berücksichtigt die individuellen Skills und Schwächen.»

«Bedenkt man, dass Chirurginnen und Chirurgen 40 bis 45 Jahre alt sind, wenn sie den Facharzttitel erhalten, ist das ein starker Anreiz.»

Bruno Schmied, Chefarzt Chirurgie, Kantonsspital St.Gallen

Laut Schmied ermöglicht es «Proficiency» zudem, die Weiterbildung künftig schneller abzuschliessen – einfach weil Eingriffe viel öfter geübt werden können. «Bedenkt man, dass Chirurginnen und Chirurgen 40 bis 45 Jahre alt sind, wenn sie den Facharzttitel erhalten, ist das ein starker Anreiz», so Schmied. Insgesamt bezeichnet er das neue Weiterbildungsmodell als «Win-win-win-Situation». Neben den Assistenzärztinnen und -ärzten sowie den Kranken profitierten auch die Spitäler von der simulationsbasierten Weiterbildung. «Spitäler, viele von ihnen defizitär, kostet die Weiterbildung von Chirurginnen und Chirurgen primär Geld.» Und aufgrund der Fallpauschalen könnten sie diese Kosten nicht verrechnen.

Überregionale Zentren für die Ausbildung

Der Kostendruck ist auch eine der Haupthürden bei der Umsetzung. «Wenn es um Investitionen für Equipment, Arbeitsplätze und Arbeitskräfte für die Weiterbildung geht, wird es schwierig», erklärt Bruno Schmied. Die Lösung liege in überregionalen Zentren, «damit nicht in jedem Spital teure Simulatoren stehen müssen». Und in Low-Cost-Plattformen wie den Box Trainern, mit denen Assistenzärztinnen und -ärzte niederschwellig und kostengünstig trainieren könnten.

«Proficiency» benötige gewisse Anfangsinvestitionen. «Danach ist die Weiterbildung aber deutlich günstiger als bisher», so Schmied. Das scheint auch den Spitälern bewusst zu sein. So zeigte eine im Rahmen des Projekts durchgeführte Umfrage unter den  weiterbildungsbeteiligten Spitälern grosses Interesse an der Modernisierung der Curricula und am Einsatz von Simulationstechnologien.

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