Die Digitalisierung kann Medizin menschlicher machen
Macht Künstliche Intelligenz ärztliche Behandlungen besser? Werden Roboter Physiotherapien übernehmen oder Exoskelette Rollatoren ersetzen? Drei Fachleute der ZHAW über das Geheimnis einer erfolgreichen Digitalisierung des Gesundheitswesens und weshalb wir uns nicht davor fürchten müssen.
Eveline Graf, würden Sie sich von einem Roboter therapieren lassen?
Eveline Graf: Ja, aber nur in der Interaktion mit Menschen. Denn der Roboter weiss nicht, wie es mir gerade geht. Ein Mensch kann das sehr schnell erfassen und den Roboter richtig einsetzen, damit ich meine Therapie dann bekomme, wenn sie nötig ist, und nicht, wenn die Therapeutin gerade Zeit hat.
Würden Sie sich von einem Roboter operieren lassen, Sven Hirsch?
Sven Hirsch: Vor allem in der Mikrochirurgie bieten assistierende Roboter grosse Vorteile: Wenn eine Bewegung eines Arztes auf Geräte übertragen wird, kann Zittern ausgeschaltet werden. Er kann dann millimetergenau hantieren. Ich würde das bei einer allfälligen OP begrüssen.
Alfred Angerer, würden Sie sich einer Behandlung unterziehen, die Künstliche Intelligenz bestimmt hat?
Alfred Angerer: Wenn es Studien gibt, die zeigen, in wie vielen Fällen diese Behandlungsmethode schon erfolgreich angewandt wurde – dann ja.
«Wenn die Digitalisierung des Gesundheitswesens richtig umgesetzt wird, bietet sie die Chance auf bessere Qualität zu niedrigen Kosten.» Alfred Angerer, so steht es in Ihrem vierten Digital Health Report Schweiz, der im Herbst erscheint. Sind das mehr als schöne Worte?
Alfred Angerer: Auf jeden Fall. Beim Thema Qualität kann man beliebig viele Studien heranziehen, die zeigen, dass Digitalisierung zu einer besseren Gesundheitsversorgung und zu besserer Prozessqualität führt. Künstliche Intelligenz erzielt zum Beispiel bessere Ergebnisse als eine Ärztin oder ein Arzt mit durchschnittlichen Fähigkeiten. All das ist unbestritten.
Auch hinsichtlich der Kosten?
Angerer: Bei den Kosten ist das Bild etwas schwieriger zu fassen. Man kann zwar die gleiche Leistung zu niedrigeren Kosten erbringen. Die Prämien werden aber nicht schon übermorgen sinken. Die Einsparungen werden durch ein Mengenwachstum zunichtegemacht.
Was versteht man eigentlich unter Digital Health?
Angerer: Ich mag einfache Definitionen, deshalb lautet unsere: Das ist der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen mit dem Ziel, höhere Qualität zu niedrigeren Kosten und mehr Patientenzentrierung zu erreichen.
Hirsch: Mir gefällt an dem Begriff Digital Health, dass die digitale Transformation drinsteckt, und diese ist ein gesellschaftliches Projekt – Mensch und Technik spielen eine Rolle.
Und was heisst «die Digitalisierung richtig umsetzen»?
Graf: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist nicht einfach nur ein IT-Projekt. Das verstehen aber noch nicht alle so.
Angerer: Zu den Kernelementen der richtigen Umsetzung gehört ein vertieftes Verständnis für Anwenderinnen und Anwender und ihre Bedürfnisse – man muss die Menschen mitnehmen, die von den neuen Lösungen profitieren können. Des Weiteren braucht es Daten und Kenntnisse über den jeweiligen Gesundheitsbereich sowie robuste und sichere disruptive Technologien. Die Organisationen müssen vorbereitet, Abläufe und Prozesse angepasst werden. Und nicht zuletzt braucht es gute Rahmenbedingungen für ein Ökosystem mit nachhaltigen Geschäftsmodellen. Das ist das Geheimnis einer erfolgreichen Digitalisierung.
Klingt recht komplex. Wie könnte das konkret aussehen?
Angerer: Wir haben in einem Projekt mit Hausarztpraxen untersucht, wie man sogenannte Patient-reported outcome measures – kurz PROMs – sinnvoll integrieren könnte. PROMs sind Fragebögen, die Patientinnen und Patienten ausfüllen, um über ihre Symptome, ihre Lebensqualität sowie andere Aspekte ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu berichten. Das sind wichtige Daten für eine Behandlung. In unserem Fall waren es digitale Fragebögen. Die Technik war dabei nicht das Problem: Patientinnen und Patienten kamen in die Praxis, erhielten als erstes ein Tablet in die Hand gedrückt, auf dem sie Fragen beantworten sollten – so etwas kann man im Design einfach gestalten. Die Informationen wurden dann an einen Computer der Ärztin oder des Arztes übertragen. An sich ist das ein einfacher Prozess. Aber wenn sich niemand damit befasst, wie dieser Prozess in den stressigen Ablauf eines Praxisalltags passt, wie der Fragebogen und die Nutzeroberfläche gestaltet sein sollen, wie viel Zeit es für den gesamten Vorgang braucht, welche Personen involviert sind – dann ist die Innovation tot, weil sie niemand nutzt. Kompliziertes passt nicht in einen vollen Praxisalltag.
Hirsch: Genau das ist die Rolle der ZHAW. In der angewandten Forschung bringen wir die verschiedenen Sichtweisen zusammen. So auch in dem von Alfred Angerer und mir geleiteten Innosuisse-Projekt SHIFT zum Spital der Zukunft. In meinem Teilprojekt geht es konkret um den Einsatz von Wearables, also kleinen tragbaren Minicomputern, die unter anderem Vitaldaten messen wie Blutdruck, Sauerstoffsättigung des Blutes etc. Dabei stellen sich viele Fragen: Wo legt man die Wearables an? Welche Fachperson macht das? Welche Geräte eignen sich für welche Personen? Viele kleine Details müssen berücksichtigt werden, die entscheidend sind, soll diese Lösung für alle funktionieren. Die gleiche Thematik haben wir in unserem Projekt Digital Health Zurich, einem Praxislabor für patientenzentrierte klinische Innovation. Als Kernprojekt entwickeln wir eine PROM-Plattform. Auch hier stellt sich die Frage, wo die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eigentlich erhoben werden, welche Fachperson dafür verantwortlich ist. Gibt es dazu eine Sprechstunde? Man muss stets die Sicht der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen. Das ist entscheidend für den Erfolg der Digitalisierung. Die Technik ist nur die Grundvoraussetzung.
Welches sind die wichtigsten technologischen Innovationstreiber im Gesundheitswesen?
Angerer: Wir haben in unserem Digital Health Report fünf potenziell disruptive Technologien identifiziert: Künstliche Intelligenz, das Internet der medizinischen Dinge, Robotik, Virtual, Augmented und Mixed Reality sowie Blockchains. Vor allem die Lösungen mit Künstlicher Intelligenz sind ein wesentlicher Wachstums- und Hoffnungsmarkt. Deren Umsatz wird 2022 auf 7 Milliarden Dollar geschätzt, und er soll bis ins Jahr 2027 auf rund 67 Milliarden Dollar ansteigen. Da KI sehr vielfältige Methoden bietet und sich als Querschnittstechnologie mit den weiteren Technologiegruppen auch sehr gut kombinieren lässt, ist das Potenzial enorm.
«Man muss stets die Sicht der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen. Das ist entscheidend für den Erfolg der Digitalisierung. Die Technik ist nur die Grundvoraussetzung.»
Hirsch: Notwendig ist hier noch Methoden der sogenannten Explanatory Artificial Intelligence – auf Deutsch Erklärbare Künstliche Intelligenz –, bei der man nachvollziehen kann, auf welchen Daten und Kriterien eine Diagnose oder Behandlungsempfehlung beruht. Derzeit ist KI noch eine Blackbox, man weiss nicht, wie das Ergebnis von maschinellem Lernen zustande kommt.
In nur dreieinhalb Jahren wollen Sie beim grossen SHIFT-Projekt das Spital der Zukunft entwickeln. Wie geht es bei dieser Mammutaufgabe voran?
Angerer: Eineinhalb Jahre haben wir hinter uns. Technisch ist schon vieles ausprobiert und wir sind gut unterwegs. Die nächste grosse Herausforderung, der wir uns gerade stellen, ist die Frage, wie wir all die Ergebnisse zusammenfassen und so etwas wie einen Masterplan erstellen können. Mit einer solchen Blaupause der Transformation soll eine Spitaldirektorin nachvollziehen können, wie ihr Spital «smart» und «liquid» werden kann. Zusammen mit den Spitälern entwickeln wir gerade eine Roadmap hierfür. Hier leisten wir zusammen mit den Forschungs- und Praxispartnern wirklich Pionierarbeit. Denn bisher gibt es keine Daten und Konzepte, wie man ein Spital transformiert.
Wie trägt die ZHAW sonst noch zum richtigen Digitalisieren des Gesundheitswesens bei?
Hirsch: Ein weiteres Beispiel ist das chirurgische Forschungs- und Lehrzentrum OR-X – ein Operationssaal der Zukunft für Orthopädie der Universitätsklinik Balgrist. Da sind wir willkommene Partner, um Lösungen zu entwickeln, die ein OP-Team braucht, um für die Realität zu trainieren. Wir entwickeln Teaching Tools, Demonstratoren, Datenbanken und Machine-Learning-Algorithmen. Das ist angewandte Forschung, und da haben wir als ZHAW eine absolute Exzellenz.
Graf: Technologien für das Wohnen im Alter war das Thema eines Workshops, den wir vom Kompetenzzentrum GEKONT im Sommer mit älteren und sogar sehr alten Menschen und deren Angehörigen durchgeführt haben. Im Fokus standen Technologien, die das Leben zu Hause einfacher gestalten sollen, wie elektronische Tablettendosen, elektrische Aufstehhilfen für die Toilettenbenutzung, automatische Glasöffner oder intelligente Notknöpfe. Wir wollten ihre Meinung dazu hören und die Probleme der Teilnehmenden im Alltag kennenlernen, um zu verstehen, was sie noch brauchen könnten für ein längeres selbstbestimmtes Leben zu Hause. Sie sollten aber auch ihre Ängste formulieren können hinsichtlich neuer Technologien. Bisher gibt es dazu kaum Daten. Der gesellschaftliche Diskurs muss endlich angestossen werden.
Besteht nicht die Gefahr eines Digital Gap in der Medizin?
Angerer: Wir können diesbezüglich ganz entspannt sein: Erstens zeigt ein Blick in die Geschichte, wie sich die Bevölkerung ganz gut an neue Entwicklungen anpassen kann. Ein Paradebeispiel ist das E-Banking. Inzwischen sind es – je nach Land – 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, die E-Banking ganz selbstverständlich nutzen. Oder ein anderes Beispiel aus einem unserer Projekte, wo wir Praxen in Deutschland bei der Digitalisierung und Optimierung unterstützen. Anfangs war die Befürchtung gross, dass die Terminvereinbarung per Internet für viele Menschen ein Unding sein könnte, vor allem für ältere Personen. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Den älteren Menschen, die das nicht selbst erledigen konnten, halfen die Enkel.
«Entwicklerinnen und Entwickler haben oftmals wenig bis kein Verständnis dafür, wie es in der Praxis aussieht. Sie gehen davon aus, die Praxis müsse jetzt halt lernen, wie diese Geräte zu nutzen seien.»
Graf: Dass ältere Personen weniger technikaffin sind, das ist ein Stück weit Mythos. Klar gibt es Leute, die das nicht möchten, aber die gibt es auch bei den jungen. Trotzdem ist wichtig, dass die Personen, die wenig direkten Zugang zu solchen Lösungen haben, unterstützt werden. Aktuell ist aber unklar, wer dafür zuständig ist und auch die nötigen Kompetenzen hat, um so etwas zu vermitteln. Oftmals sind es eben die Enkel oder die Angehörigen, die helfen. Oder auch Organisationen wie Pro Senectute, die Schulungen anbieten. Wichtig ist bei der Implementierung solcher Lösungen, dass Überlegungen angestellt werden, wie sichergestellt wird, dass alle, die diese Angebote nutzen wollen, es auch können – auch wenn sie hierfür vielleicht nicht ideale Rahmenbedingungen haben.
Wie steht es um die digitalen Kompetenzen beim Gesundheitspersonal?
Hirsch: Auch dort gibt es einen enormen Bedarf an Weiterbildung. In Arztpraxen sind kaum Kompetenzen vorhanden, wie eine Digitalisierung genau durchgeführt werden muss. Da Praxen eigenständige ökonomische Einheiten sind, wäre es sinnvoll, wenn in diesen Bereichen Standards eingeführt würden, damit sie auf Bewährtes zurückgreifen können.
«Wir könnten mit der Digitalisierung die Demokratisierung der Medizin erreichen.»
Graf: Einen Grund für diesen Gap sehe ich darin, dass all die technologischen und digitalen Lösungen aus den Entwicklungsabteilungen von Technologieunternehmen stammen. Diese Experten und Expertinnen haben oftmals wenig bis kein Verständnis dafür, wie es in der Praxis aussieht. Man geht davon aus, die Praxis müsse jetzt halt lernen, wie diese Geräte zu nutzen seien, und dann gehe das schon. Vielleicht sollten Entwicklerinnen und Entwickler aber auch ein besseres Verständnis dafür haben, wie der Alltag von Anwenderinnen und Anwendern aussieht? Hier können interdisziplinäre Ausbildungsmöglichkeiten und Studiengänge helfen, die es ja auch immer mehr gibt – auch an der ZHAW. Hier werden Schnittstellenpersonen ausgebildet, die dringend gebraucht werden.
Wenn Digital Health so positiv besetzt ist, weshalb ist dann die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern bei der Transformation so hintendrein?
Angerer: Das ist schon beschämend. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2018 landete die Schweiz auf Platz 14 von 17. Wenn man nach den Gründen schaut, weshalb sich eine Innovation durchsetzt oder nicht, gibt es vor allem drei Komponenten, die ich mit «können, wollen, dürfen» umschreibe. Am «Können» liegt es bei Digital Health nicht. Im Bereich Technologie sind wir richtig gut. Das «Dürfen», also die Gesetzgebung, die ist halbwegs schuld. Man darf zwar vieles, aber es werden wenig Anreize gesetzt, das auch zu tun. Das grösste Hindernis ist das mangelnde «Wollen». Es ist noch nicht angekommen bei den Leuten, dass die Digitalisierung eine ganz grosse Chance für das Gesundheitswesen ist. Da ist zu wenig Drive dahinter – bei Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Leistungserbringenden und bei der Politik. Dabei könnten wir mit der Digitalisierung die Demokratisierung der Medizin erreichen.
Eine grosse Vision. Was heisst das konkret?
Angerer: Wir betrachten das Thema gerne aus unserer westlichen und privilegierten Sicht. Ich möchte mal den Blick aufs grosse Ganze lenken: Für afrikanische Länder würde dadurch der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen möglich. In unserem Report schreiben wir, dass 47 afrikanische Länder dreimal so viele Ärztinnen und Ärzte bräuchten, wie sie heute haben. Mit digitalisierten Gesundheitsangeboten könnten wir dazu beitragen, die Lücke zu schliessen.
Hirsch: Wir arbeiten an einem Projekt in Simbabwe mit schwangeren Frauen. Bei ihnen wird zum Beispiel der Blutdruck nicht regelmässig überwacht. Das heisst, Komplikationen werden nicht gesehen. Bei uns ist das etwas ganz Selbstverständliches. Aber wenn man 100 Kilometer zurücklegen muss zum nächsten Spital, dann stellt sich die Situation anders dar. Für Prävention begibt sich niemand einen Tag auf den Weg hin und einen Tag wieder zurück. Digital Health wäre hier eine grosse Chance. Wie eine gute Lösung aussehen könnte, testen wir dort gerade.
«Wenn die Verbreitung so linear weitergeht, brauchen wir noch 6500 Jahre, bis in der Schweiz alle ein EPD haben.»
Die Post will jetzt gross einsteigen als Anbieterin von elektronischen Patientendossiers.
Angerer: Auf das elektronische Patientendossier – kurz EPD – warten wir in der Schweiz bereits seit 13 Jahren. 0,2 Prozent der Menschen haben hierzulande ein solches EPD. Wenn die Verbreitung so linear weitergeht, brauchen wir noch 6500 Jahre, bis alle ein EPD haben. Wenn ich hingegen auf mein Amazon-Konto gehe, kann ich sehen, welches Buch ich 2001 gekauft habe – also vor 22 Jahren, als ich mit meinem Studium fertig war. Ich habe aber keine Ahnung mehr, was mir der Arzt damals beim Allergietest erzählt hat. Wir sind da also mindestens 20 Jahre hinterher.
Graf: Die Corona-Pandemie hat ja gezeigt, dass alles viel schneller gehen kann, wenn der Druck da ist. Das galt nur leider nicht für das Gesundheitswesen. Da ist noch zu wenig Druck vorhanden. Wir leisten uns noch dieses nicht mehr ganz zeitgemässe System.
Haben Sie ein elektronisches Patientendossier?
Angerer: Ich habe keines, denn ich hätte damals von Winterthur nach Aarau reisen müssen, um es persönlich zu beantragen. Das war mir zu aufwendig. Inzwischen ist das einfacher geworden.
Graf: Ich habe selbst auch noch keines. Von einer Kollegin weiss ich aber, dass sich ein Arzt geweigert hat, ein Formular auszufüllen, als sie ein EPD eröffnen wollte. So macht das auch keinen Sinn.
Hirsch: Ich lebe in Deutschland und der Schweiz und grenzübergreifend funktioniert das nicht. Ich wäre aber froh darüber, wenn ich nicht mehr CDs zu den Ärzten tragen müsste.
«Ich glaube, das Thema Datenschutz ist teilweise nur vorgeschoben. Aus technologischer Sicht kann man sichere Systeme designen.»
Andere Studien haben gezeigt, dass viele Menschen Angst haben vor Datenmissbrauch oder Datendiebstahl.
Hirsch: Ich glaube, das Thema Datenschutz ist teilweise nur vorgeschoben. Aus technologischer Sicht kann man by design sichere Systeme schaffen. Und bei Studien mit digitalen Gesundheitsdaten wird das Thema Ethik beachtet. Da wird nichts geklaut. Das Problem ist eher, dass der Datenschutz in der Schweiz eine kantonale Angelegenheit ist. Deshalb gibt es sehr viele verschiedene Regelungen. Das Beste, was man tun kann, ist aber, dass man gute und einfache Sicherheitsstandards anbietet für die Organisationen. Wenn ich als Staat die Player gut unterstütze und sage, das sind die Hilfsmittel, die ihr habt, und das sind die Regeln, an die ihr euch halten müsst, dann ist Datenschutz nicht das Problem.
Angerer: Wenn es weiter so schleppend vorangeht mit der Digitalisierung, dann werden jetzige Anbieter in diesem Bereich vom Markt verschwinden und es bleiben am Ende die Googles und Facebooks dieser Welt übrig. Denen möchte ich meine Daten auch nicht anvertrauen.
Graf: Ich denke, die Leute sind durchaus bereit, ihre Daten über Facebook und Co. zu verbreiten, und sie sind sich vielleicht nicht bewusst, dass sie möglicherweise schon heute Gesundheitsinformationen teilen. Ich bin überzeugt, dass sich die Datenschutzdebatte bald erübrigen wird, wenn die Leute den tatsächlichen Nutzen von Digital Health sehen.
Sie betonen, die Qualität solle verbessert werden. Trotzdem klingeln bei manchen Versicherten die Alarmglocken, weil sie fürchten, die Krankenkassen könnten aufgrund ihrer Prädisposition oder ihres Verhaltens die Prämien erhöhen.
Angerer: So ticken Gesundheitsversicherungen im Moment nicht. Und wir als Gesellschaft haben gesagt: Wir wollen eine Grundversicherung: Jeder ist obligatorisch versichert und kriegt eine gute Versorgung. Das sind die Spielregeln heute.
Hirsch: Das ist keine Frage der Digitalisierung. Da geht es um die Frage, wollen wir solidarisch gesamtgesellschaftlich haften – ja oder nein.
Gewisse Politikerinnen und Politiker sagten kürzlich Nein und wollen die Grundversicherung abschaffen, weil das System zu hohe Kosten verursache – allen voran die Zürcher Gesundheitsdirektorin.
Graf: Meine Erfahrung mit Krankenkassen ist bis jetzt, dass sie daran interessiert sind, dass ihre Kundinnen und Kunden eine gute und effiziente Behandlung erhalten. Das heutige Gesundheitswesen ist aber nicht effizient: Personen mit komplexeren Gesundheitsproblemen – etwa nach einem Schlaganfall – müssen zur Physiotherapie, zur Ergotherapie, vielleicht auch noch zu einer neurologischen und einer weiteren hausärztlichen Behandlung. Dort müssen sie immer die gleichen Fragen über sich ergehen lassen. Das alleine kostet ja schon Zeit und Geld. Das könnte man einmal zentral erfassen und mit allen teilen und Kosten sparen.
«Repetitive Aufgaben können Maschinen übernehmen. Dann bleibt mehr Zeit für den menschlichen Austausch.»
Durch Digitalisierung soll das Gesundheitssystem menschlicher werden. Klingt nach einem Widerspruch.
Graf: Technologie und Digitalisierung, sorgen dafür, dass das Gesundheitspersonal repetitive Aufgaben abgeben kann. Medikamente verteilen, das könnte auch eine Maschine. Vielleicht wird das Personal auch bei Entscheidungen entlastet, die aufgrund von Analysen vieler Daten getroffen werden müssen. Die gewonnene Zeit könnte eingesetzt werden für den menschlichen Austausch, wo dann vielleicht weitere Informationen zutage kommen, die für die Behandlung wichtig sind. Aus diesem Grund sehe ich auch keine Gefahr, dass es weniger Pflegepersonen braucht. Die menschliche Kompetenz ist essenziell.
Angerer: Pflegefachkräfte in einem Spital sind nur zu 30 Prozent ihrer Zeit mit den Patientinnen und Patienten beschäftigt. Man glaubt gar nicht, wie viel Administration wir unseren Fachkräften zumuten, und da kann Digitalisierung Abhilfe schaffen.
Wie wird das Gesundheitssystem in 20 Jahren aussehen? Werden Exoskelette die Rollatoren ersetzen oder Roboter die Gesundheitstherapeutin?
Graf: Gesundheitsfachpersonen werden nicht komplett durch Roboter ersetzt werden, da sehe ich kein Risiko. Der Eins-zu-eins-Austausch zwischen Menschen ist höchst relevant. Die Technologie, die einen Menschen so schnell und gesamthaft erfassen kann, wird es nie geben – und selbst wenn, dann sicher nicht in 20 Jahren.
Hirsch: Mir gefällt der Gedanke des «Liquiden», was wir sehr stark auch in dem SHIFT-Projekt thematisieren: Die physischen Grenzen der Institutionen werden durchlässiger. Das bedeutet, die Patientin ist den Gesundheitsfachpersonen im Spital bereits vor dem Eintritt bekannt, weil sie auch von zu Hause aus direkt mit der Spitalärztin kommunizieren kann. Sie wird dann optimal auf den Aufenthalt vorbereitet, und auch die Nachsorge gestaltet sich einfacher. Das wäre eine gelungene integrierte Versorgung oder ein Hospital at Home – in 20 Jahren wird das Realität sein.
Angerer: Meine Vision ist ganz konkret: Gehe ich heute mit Migräne zum Arzt, macht der vielleicht ein MRI und sieht nichts: Er weiss nicht, was die Ursache ist. Ich wünsche mir, dass der Arzt in 20 Jahren aus der Kombination so vieler verschiedener Datenquellen weiss, wie es mir geht. Er weiss dann, dass ich schlecht geschlafen habe, Stress habe, meine Ernährung nicht gut ist, ich zu wenig Sport treibe usw. Und er wird mir den Grund sagen können, weshalb es mir schlecht geht. Oder noch idealer, er sagt mir, was ich tun muss, damit es mir besser geht. So ein Gesundheitssystem wünsche ich mir.
Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG)
Das WIG ist ein Kompetenzzentrum für volks- und betriebswirtschaftliche Fragen im Gesundheitswesen. Schwerpunkte sind Health Technology Assessment (HTA), gesundheitsökonomische Evaluationen, Versorgungsforschung, Patientenklassifikationssysteme, Gesundheitspolitik, Strategie- und Prozessoptimierung, Marktanalysen sowie integrierte Versorgung.
ZHAW Digital Health Lab und GEKONT
Die beiden interdisziplinären ZHAW-Kompetenznetzwerke ZHAW Digital Lab und GEKONT schaffen praxistaugliche, den Menschen ins Zentrum stellende Innovationen für den Gesundheitssektor, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern und den Technologietransfer zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.
Smart Hospital – Integrated Framework, Tools & Solutions (SHIFT)
SHIFT ein Flagship-Projekt der Förderagentur des Bundes Innosuisse. Das Forschungsprojekt läuft bis Juni 2025. Es hat ein Gesamtbudget von 5,7 Millionen Franken. Während dreieinhalb Jahren erforscht ein Konsortium unter der Leitung der ZHAW, wie sich diese Transformation zum Spital der Zukunft umsetzen lässt – zusammen mit vier weiteren Forschungspartnerinnen und -partnern (USB, UZH, FHNW und UNIBAS), rund 20 Spitälern und 24 Industriepartnerinnen und -partnern. Dabei ist stets im Fokus: das smarte Spital der Zukunft.
Digital Health Zurich
Digital Health Zurich erforscht digitale Gesundheitslösungen im Spitalkontext und setzt diese effizient und praxisrelevant um. Gemeinsam mit Kliniken, Industriepartnern und Hochschulen wird so nachhaltig ein digitales Zürcher Ökosystem im Gesundheitswesen etabliert und Zürich als «Smart Health City» positionieren.
OR-X
OR-X ist ein chirurgisches Forschungs- und Lehrzentrum und eine Simulation des Operationssaals der Zukunft für Orthopädie der Universitätsklinik Balgrist.
Patient-reported outcome measures (PROMs)
PROMs sind Fragebögen, die Patientinnen und Patienten ausfüllen, um über ihre Symptome, ihre Lebensqualität sowie auch andere Aspekte ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu berichten. Sie messen systematisch den Erfolg der Behandlung aus Sicht der Patientinnen und Patienten. Zudem können PROMs die personalisierte Medizin fördern.
Podcast Marktplatz Gesundheitswesen
Ein Podcast zu Management und Führung im Gesundheitswesen.
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