Mit seinem Engagement als Dozent möchte Stefan Flückiger seiner Heimatstadt Winterthur etwas zurückgeben. (Bild: Conradin Frei)
Vom Diplomaten zum Dozenten 

«Das meiste lernte ich on the job» 

29.11.2024
2/2024

Stefan Flückiger vertrat die Schweiz auf höchster Ebene international. Nach einer langen Diplomatenkarriere könnte er als Pensionierter das Nichtstun geniessen – doch er gibt seine Erfahrungen gerne an Studierende der ZHAW weiter.  

Das erste Land, in das Stefan Flückiger als Diplomat entsandt wurde, war Haiti. 1990 war dort erstmals ein demokratisch gewählter Präsident an die Macht gekommen. Flückiger war ab 1994 im Auftrag der Weltbank für den Wiederaufbau des verarmten Karibikstaats zuständig. «Nach drei Jahren war die Mission beendet und wir waren gescheitert – trotz zahlreicher Experten vor Ort und grosszügiger Finanzhilfe vieler Länder und Organisationen», bilanziert er. «Ich habe damals sehr viel gelernt über Entwicklungszusammenarbeit.» Es reiche nicht, in einem Land, das keine Erfahrungen hat mit Demokratie, formal ein demokratisches System einzurichten. «Solange keine verlässlichen eigenen Institutionen vorhanden sind, funktioniert es langfristig nicht.» Die Unterstützung von aussen werde immer als fremde Stimme empfunden – notwendig, aber auch entwürdigend. Es brauche mehrere Generationen, um ein Land von einer Diktatur in eine Demokratie zu führen, sagt Flückiger. Das sehe man heute auch in Ostdeutschland.  Stefan Flückiger war dreissig Jahre lang Diplomat im Auftrag der Schweiz. Ursprünglich hatte er in Zürich Anglistik studiert und wollte Englischlehrer werden. «Doch ich merkte rasch, dass mir die Welt einer Schule zu eng war», erzählt er. «Ich war schon immer sehr interessiert am Zeitgeschehen, an internationaler Politik und wirtschaftlichen Zusammenhängen.» Nach einem Abstecher an die amerikanische Eliteuniversität Yale merkte er, dass ihn die Praxis mehr reizte als eine akademische Laufbahn. Deshalb machte er 1989 die Aufnahmeprüfung als Diplomat beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA. Es sei eine andere Zeit gewesen: «Ende der 1980er-Jahre gab es weder das Internet noch Mobiltelefone, Reisediplomatie war teuer und selten», erzählt Flückiger. Damals habe es zu den Aufgaben eines Diplomaten gehört, Bern darüber zu informieren, was in seinem Land passierte. «Das fand ich spannend, denn andere Kulturen und Denkweisen faszinieren mich.» Zudem hätten Diplomaten früher selbstständiger handeln dürfen als heute. Bereits bei seinem ersten Einsatz in Simbabwe während der Ausbildung wurde Flückiger bewusst, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. 

Umzug in die neu-alte deutsche Hauptstadt 

Im Verlauf seiner Karriere wurde Stefan Flückiger immer mehr zum Experten in Wirtschafts- und Finanzpolitik. «In Yale hatte ich zwar Kurse in Ökonomie belegt, doch das meiste lernte ich on the job», erzählt der 66-Jährige. «Ich hatte grossartige Mentoren, die mir alles beibrachten.» Nach der Rückkehr aus Haiti wurde Flückiger 1997 nach Bonn entsandt, wo er als Leiter der Wirtschaftsabteilung der Schweizer Botschaft den Umzug in die neu-alte deutsche Hauptstadt Berlin miterlebte. In seine Amtszeit fielen auch die umstrittene Währungsunion der Ostmark mit der D-Mark sowie später die Einführung des Euro in Deutschland – eine Zeit des Aufbruchs, die er als sehr spannend in Erinnerung hat. Manchmal half auch der Zufall beim nächsten Karriereschritt. Unter Schweizer Unternehmern war während der kriselnden 1990er-Jahre die Idee aufgekommen, nach amerikanischem Vorbild einen Think-Tank zu schaffen, der Vorschläge ausarbeitet, wie man das Land reformieren könnte. Flückiger erfuhr davon, war fasziniert – und arbeitete schliesslich von 2002 bis 2005 als einer der führenden Köpfe beim Aufbau der Denkfabrik Avenir Suisse in Zürich mit. 

Es braucht mehrere Generationen, um ein Land von einer Diktatur in eine Demokratie zu führen.

Stefan Flückiger, ehemaliger Diplomat

Einsatz nördlich des Polarkreises 

Flückigers nächste Station war Paris. 2006 wurde er Stellvertreter des Schweizer Botschafters bei der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2010 übernahm er den Chefposten. Er betreute unter anderem ein Dossier, das für die Schweiz äusserst wichtig und heikel war: das Bankgeheimnis. Im Zuge der Finanzkrise 2008 konnte sich die Eidgenossenschaft nicht mehr gegen dessen Abschaffung wehren. 2014 kehrte Stefan Flückiger nach Bern zurück. Er bekam den Auftrag, sich dafür einzusetzen, dass die Schweiz den Beobachterstatus im Arktischen Rat erhält, in dem die Anrainerstaaten des Nordpols zusammengeschlossen sind. Die Schweiz betreibt seit über 100 Jahren Forschung in der Arktis und hat in den Alpen ähnliche Herausforderungen wie die nordischen Länder. Zudem werden durch die Klimaerwärmung nördlich des Polarkreises neue Handelsrouten frei, wodurch das Gebiet strategisch wichtig wird. «Endlich kam ich zum Reisen», erinnert sich der Diplomat. «Die Sitzungen fanden in Island, Schweden, Norwegen und Russland statt.» Die Schweiz wurde schliesslich als Beobachter zugelassen. «Damals wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, welche Auswirkungen die Klimaveränderungen haben», sagt Flückiger. 2018 wechselte er ins Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. Zwei Jahre lang leitete er Verhandlungen für Handelsabkommen mit der EU und mit Grossbritannien.   Eigentlich wollte Stefan Flückiger seine Karriere als Botschafter irgendwo weit weg von der Schweiz abschliessen. Stattdessen ernannte ihn der Bundesrat 2020 zum stellvertretenden Staatssekretär für internationale Finanzangelegenheiten: Bis 2023 vertrat er die Schweiz bei Treffen der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, der G20. Die Schweiz gehört nicht zu den Mitgliedern, nimmt aber am sogenannten «Finance Track» teil, in dem globale Finanz- und Währungsfragen besprochen werden. Damit war zwar sein alter Traum, auf Reisen zu sein, in Erfüllung gegangen, doch er empfand die Zeit auch als frustrierend und anstrengend: «Ich eilte von Konferenz zu Konferenz und war jeweils für zwei oder drei Tage in Washington, Saudi-Arabien, Indonesien oder Indien.» Sein ökologischer Fussabdruck sei in diesen drei Jahren riesig gewesen, die Diskussionen auf höchster internationaler Ebene zu verfolgen, habe er aber als Privileg empfunden.  

Neue Aufgabe als Dozent 

Seit einem Jahr ist der Diplomat nun pensioniert. Doch Stefan Flückiger ist weiterhin aktiv und möchte seine Erfahrungen teilen: Seit Frühling 2024 ist er als Gastdozent an der ZHAW tätig. Pro Semester gibt er an der School of Management and Law zwei Blockseminare: «Brennpunkte des Zeitgeschehens» und «International Trade and Policy». In beiden Kursen geht es um das internationale Finanzsystem und dessen Geschichte. Dabei bettet Flückiger seine reichen Erfahrungen in die aktuelle Weltpolitik ein. «Ich merke, dass viele Menschen kein geschichtliches Bewusstsein dafür haben, wie Wirtschaftswachstum und Wohlstand entstanden sind und welche Konsequenzen dies für die Entwicklungsländer und die Umwelt hat», sagt der Dozent. Dies möchte er ändern. Er habe den «Plausch» am Unterrichten, betont Stefan Flückiger. Die Seminare geben ihm auch die Gelegenheit, seine persönlichen Erfahrungen auf einer theoretischen Ebene zu verarbeiten. Daneben ist der Ex-Diplomat Ehrenpräsident des «Green Fintech Network», das grüne digitale Finanzunternehmen fördert. Und wenn er nicht gerade am Reisen ist, dann liest der studierte Literatur- und Sprachwissenschaftler zu Hause in Wiesendangen ein Buch. «Endlich habe ich Zeit dafür», freut sich Stefan Flückiger, «die Leidenschaft für Literatur ist noch immer gross!» 

(Bilder: Conradin Frei)

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