Ein Flur in einem Gefängnis mit blauen Türen und grellem Licht

«Der Richter hat seinen Henker verloren»

27.05.2025
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Durch den Aufenthalt im Gefängnis soll ein Straftäter sich wieder in die Gesellschaft integrieren können und nicht mehr rückfällig werden. Das ist ein Credo des modernen Rechtsstaates. Doch die Gesellschaft will Schutz und Sicherheit vor Gewalttätern. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Fachpersonen, die im Justizvollzug arbeiten.

Es ist schon eine Weile her, doch dieser Fall hat das Schweizer Justizvollzugssystem grundlegend verändert und sich erheblich darauf ausgewirkt, wie der Rechtsstaat mit Gewalt- und Sexualstraftätern umgeht: der Mord am Zollikerberg im Jahr 1993.

Wegen elf Vergewaltigungen und zwei Sexualmorden war Erich Hauert zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt worden. Doch obwohl er als «extrem gefährlich» eingestuft worden war, wurden ihm wenige Jahre nach seiner Inhaftierung unbegleitete Hafturlaube gewährt. Am 29. Oktober 1993 durfte er wiederum für mehrere Tage die Gefängnismauern verlassen. Am Nachmittag des 30. Oktober wurde die Leiche der 20-jährigen Pasquale Brumann gefunden.

Lebenslange Verwahrung bei extremer Gefährlichkeit

Seit dem Fall Hauert müssen Sexual- und Gewalttäter, welche als extrem gefährlich und gewalttätig eingestuft sind, lebenslang verwahrt werden und dürfen auch keine Hafturlaube oder vorzeitige Entlassungen erhalten. «Der Fall Hauert war ein Paradigmawechsel», sagt Benjamin Brägger. «Erstmals wurde die Frage der Sicherheit für die Gesellschaft ins Zentrum gestellt.» Der promovierte Jurist und Kriminologe befasst sich seit über 30 Jahren mit der Frage, warum Menschen kriminell werden und welche strafrechtlichen Interventionen sowohl dem Täter als auch der Gesellschaft nützen.

«Wir brauchen menschliche Anstalten mit gut ausgebildetem Personal, das resilient ist, mit Straftätern arbeiten kann und das Gute im Menschen im Fokus hat.»

Benjamin Brägger, Experte und Leiter CAS Sanktionenvollzug

Brägger ist anerkannter Experte für kriminologische oder gefängnisspezifische Themen im Bereich des Justizvollzugs sowie Gutachter und Ausbildner. Er war Leiter einer Strafanstalt und Amtsvorsteher eines kantonalen Amts für Justizvollzug, hat mehrere Standardwerke zum Justizvollzug verfasst und das Schweizerische Institut für Strafvollstreckungs- und Strafvollzugswissenschaften gegründet. Ab September wird er am ZHAW-Departement Soziale Arbeit den neuen CAS mit dem Titel «Fachexpertise Recht des Sanktionenvollzugs: Von der Verurteilung bis zum Ende der Probezeit» leiten.

Professionalisierung und Risikoorientierung

Der Mord am Zollikerberg habe zu einer Professionalisierung geführt und zum sogenannten risikoorientierten Sanktionenvollzug, so Brägger. Neben dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft soll mit der Risikoorientierung gleichzeitig auch die Rückfallgefahr gesenkt werden. Das hat zu einer restriktiveren Praxis geführt: Bestehen Zweifel, ob ein Straftäter in der Freiheit nicht wieder gewalttätig und gefährlich werden könnte, so wird er nicht entlassen. Es hat auch dazu geführt, dass forensische Psychiaterinnen und Psychiater beigezogen werden, welche das Risiko eines Rückfalls vorhersagen müssen. Brägger ist gegenüber solchen psychiatrischen Prognosen kritisch eingestellt: «Gefährlichkeit und Rückfallgefahr sind letztlich juristische Fragen, über welche auch Juristinnen und Juristen entscheiden müssen», begründet er.

Nötige Resilienz und Kompetenz

In diesem Spannungsfeld zwischen Wiedereingliederung und möglicher Rückfallgefahr sind die Anforderungen an Beschäftigte im Strafvollzug noch anspruchsvoller geworden. «Wir brauchen menschliche Anstalten mit gut ausgebildetem Personal, das resilient ist, mit Straftätern arbeiten kann und das Gute im Menschen im Fokus hat», sagt Brägger. Brägger will in seiner Tätigkeit als Ausbildner – und auch im CAS der ZHAW – Kompetenzen und Werthaltungen für diese Aufgabe vermitteln und das Rüstzeug dafür mitgeben, dass sich Mitarbeitende von Vollstreckungsbehörden, Bewährungs- und Sozialdiensten im Justizvollzug oder auch aus der forensischen Psychologie im Spannungsfeld von Risikoorientierung, Prävention und Wiedereingliederung sicher bewegen können.

Auch wenn ein Teil der Gesellschaft der Ansicht sei, dass Strafe wehtun müsse: «Der Vollzug muss mit Menschlichkeit gepaart sein, wenn wir den Menschen nicht brechen wollen», davon ist Brägger überzeugt. Wenn die inhaftierte Person im Gefängnis eine Ausbildung machen oder Interventionsprogramme besuchen und sich so auch besser kennenlernen und verstehen kann, dann findet sie sich später auch in Freiheit besser zurecht und wird weniger rückfällig.

Nein, mit Kuscheljustiz habe dies nichts zu tun, so Brägger. Doch nicht die Bedingungen im Gefängnis sollten bestrafend sein. Die Strafe sei der Freiheitsentzug und werde durch Richterinnen und Richter verhängt. Oder, wie es Brägger formuliert: «Der Richter hat seinen Henker verloren.»

Fachtagung Sanktionenvollzug

Die 3. Fachtagung Sanktionenvollzug am 30. Juni 2025 an der ZHAW im Toni-Areal Zürich widmet sich dem Behandlungs- und Therapieplan im Massnahmenvollzug und richtet sich an Fachpersonen aus staatlichen und privaten Vollzugseinrichtungen.

(Headerbild: Doris Signer)

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