Eli Reust (l.) und Laura Alemanno, die sich seit ihrem ersten Studientag an der ZHAW kennen, sammelten mit einem Crowdfunding Geld, kauften einen Bus, bauten ihn zu einer mobilen Hebammenpraxis um und fuhren los.

Die mobilen Hebammen

21.03.2023
1/2023

Es begann vor fünf Jahren als Ad-hoc-Aktion. Nun ist es nachhaltig verankert: Was sie mit ihrer mobilen Hebammenpraxis für Frauen auf der Flucht erleben würden, davon hatten die ZHAW-Absolventinnen Eli Reust und Laura Alemanno keine Vorstellung.

«Kraft gibt uns, wie stark die Frauen sind, die wir betreuen», sagt Eli Reust. Gemeinsam mit Laura Alemanno hat sie vor rund fünf Jahren Mambrella gegründet: eine mobile Hebammenpraxis, in der geflüchtete Frauen untersucht und betreut werden können. «Rückblickend waren wir ziemlich naiv», sagt Laura Alemanno. «Niemand hatte auf uns gewartet.» Trotzdem ist es ihnen gelungen, ein Angebot aufzubauen, das Frauen auf der Flucht sinnvoll unterstützt.

Wie alles begann

Blenden wir zurück in den Sommer 2018. Die beiden hatten seit Kurzem ihr Bachelordiplom als Hebammen in der Tasche und arbeiteten nun an ihrem Projekt Mambrella. Den Anstoss dafür bekam Eli Reust 2017 bei einem Einsatz als freiwillige Helferin in einem Flüchtlingslager in Serbien. «Ich habe gesehen, wie dringend notwendig Hebammenbetreuung wäre. Die Frauen wurden mit ihren Ängs­ten und Bedürfnissen so oft allein gelassen.»

In den Flüchtlingscamps merkten wir irgendwann, dass wir uns auf die Hebammenarbeit konzentrieren müssen.»

Eli Reust

Eli Reust und Laura Alemanno, die sich seit ihrem ersten Studientag an der ZHAW kennen, sammelten mit einem Crowdfunding Geld und kauften einen Bus als mobile Hebammenpraxis. Dann fuhren sie los. «Ich sagte allen, ich sei in spätestens drei Monaten zurück», erinnert sich Eli Reust. Daraus wurden neun Monate. Ursprünglich planten sie, ihren Bus in Serbien einzusetzen. Vor Ort wurde klar, dass der Standort Griechenland mehr Sinn ergibt. «Dort mussten wir uns zuerst das Vertrauen der Campleitenden erarbeiten», sagt Laura Alemanno. In die Flüchtlingslager hinein durften sie nicht. So stellten sie ihren Bus vor den Toren der Camps ab. 

Sie untersuchten schwangere Frauen, betreuten Familien mit Neugeborenen, verteilten Pakete mit Windeln und Stilltee, hatten ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte. «Irgendwann merkten wir, dass wir uns auf die Hebammenarbeit beschränken müssen», sagt Eli Reust. «Von den Geflüchteten wurden wir auch nach allem anderen gefragt, was ja logisch ist. Aber wir konnten mit Asylanträgen oder dem Zusammenführen von Familien­mitgliedern nicht helfen. Deshalb konzentrierten wir uns auf unser Handwerk, die Hebammenarbeit. Das wurde von den Geflüchteten respektiert.» 

Die Tage vor den Toren des Flüchtlingslagers waren lang und anstrengend. «Aber es war auch sehr befriedigend», erklärt Laura Alemanno, die 2018 insgesamt acht Monate dort war. Sie hätten allerdings lernen müssen, dass die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen, wie sie helfen könnten, nicht zwangsläufig dem entsprachen, was tatsächlich gefragt war vor Ort. Mit Einsätzen der beiden Gründerinnen und weiterer Hebammen konnte Mambrella das Engagement auch 2019 weiterführen. 

Alles stand kopf 

Dann kam Corona. «Die griechische Regierung riegelte während der Pandemie viele Lager ab und verlegte die Geflüchteten je nachVerfahrensstand in Wohnungen in der Stadt oder in Camps weiter draussen in der Agglomeration», erklärt Eli Reust. Das bedeutete für die Mambrella-Hebammen viel längere Anfahrtswege. «Wir konnten deutlich weniger Frauen pro Tag besuchen. Dafür hatten wir öfter die Gelegenheit, eine Frau über mehrere Monate zu betreuen. Das ist für die Hebammenarbeit sinnvoller.» 

Nicht nur die Pandemie veränderte die Welt – die persönlichen Realitäten der beiden Hebammen wandelten sich ebenfalls über die Jahre. So wurde Eli Reust vor eineinhalb Jahren selbst Mutter. Die beiden haben deshalb neue Lösungen gesucht. «Uns war von Anfang an wichtig, dass Mambrella nachhaltig ist», sagt Laura Alemanno. Schon länger arbeitet Mambrella mit der NGO Amurtel Greece zusammen, die ebenfalls auf Schwangere und Mütter fokussiert ist. «Amurtel liefert uns zum Beispiel die Adress­listen für unsere Hausbesuche», sagt Laura Alemanno. Seit vergangenem Januar hat Mambrella nun über Amurtel eine griechische Hebamme angestellt. «Sie kann vor Ort am meisten bewirken», erklärt Eli Reust. Weiterhin ist geplant, dass ab und zu Hebammen aus der Schweiz Einsätze leisten und die Kollegin von Amurtel unterstützen. «Aber das Projekt ist nun wirklich vor Ort verankert.» Neben der direkten Hebammenbetreuung bietet Mambrella gemeinsam mit Amurtel auch Workshops an, in denen die Frauen mehr lernen über Themen wie den weiblichen Zyklus oder Verhütung.

Den Kontext verstehen

Viele der Frauen stammen aus Syrien, Iran, Afghanistan, Gambia  oder aus der Demokratischen Republik Kongo. Die Kommunikation mit ihnen läuft oft via Dolmetscherinnen. «Sie sind für uns nicht nur sprachliche Übersetzerinnen, sondern auch kulturelle. Mit einer Dolmetscherin hatten wir ein so gutes Verhältnis, dass sie uns stillschweigend mitteilen konnte, wenn wir eine Frage stellten, die im Herkunftsland der Frau wohl unangebracht wäre. Wir haben es ja als Hebammen mit zum Teil sehr intimen Themen zu tun.» Die betreuten Frauen kommen aus einem anderen kulturellen Kontext, und auch das Leben als Geflüchtete oder Migrantin verändert vieles.

«Eine Weile lang waren wir dauernd wütend. Auf die Politik, auf die Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen. Wir haben ein Stück Leichtigkeit verloren.»

Eli Reust

Wie hat das Engagement für Mambrella die beiden Gründerinnen beeinflusst? «Eine Weile lang waren wir dauernd wütend. Auf die Politik, auf die Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen. Wir haben ein Stück Leichtigkeit verloren.» Gleichzeitig war es ein Leben im Provisorium: «Bis zur Pandemie pendelte ich zwischen Griechenland und der Schweiz  hin und her – immer auf dem Sprung», erklärt Eli Reust. 

Versorgungskluft ist schwer zu ertragen

Der Unterschied zwischen der minimalen Versorgung, die sie den Frauen in Griechenland anbieten konnten, und den hohen Standards in Schweizer Kliniken sei manchmal schwierig zu ertragen gewesen. Ein Ereignis ist Eli Reust besonders in Erinnerung geblieben: Wie sie mit einer hochschwangeren Frau, die wegen Kinderlähmung im Rollstuhl sass, ins Spital fuhr. «Sie war nicht sicher, ob sich das Kind bewegt, ich konnte es auch nicht abschliessend beurteilen.» Im Spital seien sie nach drei Stunden an die Reihe gekommen.

«Uns war von Anfang an wichtig, dass Mambrella nachhaltig ist.»

Laura Alemanno

«In der Schweiz würde wohl in der Notaufnahme ein Alarm ausgelöst, sobald eine solche Patientin ankommt. Aber ich mache dem dortigen Personal keinen Vorwurf, das griechische Gesundheitssystem ist am Boden. Ich habe eine Pflegefachfrau getroffen, die allein für 40 Wöchnerinnen zuständig war.» In einem anderen Fall wusste eine Mutter fünf Tage lang nicht, ob ihr Kind nach der Geburt überlebt hatte, weil das Baby in eine andere Klinik verlegt worden war und niemand die Mutter informiert hatte.

An eigene Grenzen gestossen

Eli Reust und Laura Alemanno sind selbst auch an ihre Grenzen gekommen. «Viele Frauen hatten entweder im Herkunftsland oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt. Wenn dir fünf Frauen in Folge erzählen, dass sie vergewaltigt worden waren, dann macht das etwas mit dir. Das haben wir zu Beginn unterschätzt: Dass wir auch für uns selbst sorgen müssen», sagt Eli Reust.

Sie ist heute zu 20 Prozent von Mambrella angestellt und arbeitet in einem kleinen Pensum als Hebamme im Triemlispital in Zürich, Laura Alemanno ist gerade von Basel nach Zürich gezogen und auf Stellensuche. Der Einsatz für Mambrella geht von hier aus weiter, ein wichtiger Teil macht derzeit die Spendensuche aus. Weitere Einsätze vor Ort schliessen die beiden nicht aus. Der Kontakt nach Athen, das zu einer zweiten Heimatstadt für die beiden geworden ist, bricht nie ab. 

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