Von der Ergotherapeutin zur Geschäftsführerin

20.09.2022
3/2022

Sie leitet die zwei Standorte der Neuro-Reha-Klinik cereneo am Vierwaldstättersee, ist CEO von deren Besitzerin, der NRG-Holding, und treibt die Tele-Reha-Entwicklung der Gruppe an den Standorten Amsterdam und Berlin voran: die Ergotherapie-Absolventin Irene Christen.

Schöner könnte sie kaum gelegen sein. Die Reha-Klinik cereneo in Hertenstein liegt auf einer Halbinsel im Vierwaldstättersee. Von Irene Christens Büro aus sieht man den See und die Berge. Die 34-Jährige ist Geschäftsführerin der Kliniken für neurologische Rehabilitation. An den Standorten in Hertenstein und in Vitznau werden vor allem Menschen nach einem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder mit Parkinson behandelt.

Praxis in Dubai mit aufgebaut

Die ZHAW-Absolventin sitzt auf einem Hocker vor ihrem schwarzen Bürotisch und erzählt: «Hier bei cereneo habe ich meine erste Stelle nach dem Bachelorstudium in Ergotherapie angetreten – und es hat einfach gepasst.» Das war 2012 und der Anfang einer steilen Karriere. Die Ergotherapeutin konnte die Klinik in Vitznau mit aufbauen, hatte viel Gestaltungsmöglichkeiten und übernahm immer mehr Verantwortung – zuerst in ihrem Bereich, bald als Leiterin der Therapien. Auch im Personalmanagement half sie und engagierte sich beim Aufbau einer Praxis in Dubai, die 2017 eröffnet wurde: «Die Praxis haben wir gegründet, da wir gesehen haben, dass es an Nachbetreuungsmöglichkeiten für unsere Patienten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten fehlte.» 

«Zu sehen, dass man mit einem starken Team arbeitet, macht mir Freude und gibt mir Freiraum, um mehr strategisch zu arbeiten.»

Irene Christen, ZHAW-Absolventin in Ergotherapie

Im Laufe der Zeit erwarb sich Christen das Vertrauen der Klinikbesitzerin – der NRG-Gruppe. Nach verschiedenen Wechseln in der Geschäftsführung wurde sie 2018 gefragt, ob sie die Klinikleitung in Vitznau übernehmen möchte. Und sie traute sich. Um das notwendige betriebswirtschaftliche Know-how zu erwerben, absolvierte sie einen Executive MBA an der Universität in St. Gallen. Als später der Klinikstandort Hertenstein aufgebaut wurde, übernahm sie auch dort die Koordination des Aufbaus und schliesslich 2020 die Leitung.

CEO der NRG-Gruppe

Seither ist sie verantwortlich für die beiden Schweizer Klinikstandorte mit den 120 Mitarbeitenden. Doch dabei blieb es nicht. 2020 wurde sie zudem zur CEO der Holding der NRG-Gruppe ernannt und treibt an den Standorten Amsterdam und Berlin den Aufbau für digitale therapeutische Dienstleistungen auf Gruppenebene voran.

Parallelen zwischen Ergotherapie und Management

Irene Christen sieht Parallelen zwischen der Ergotherapie und ihren Managementaufgaben: «In beiden Jobs muss man Menschen gernhaben und sich verantwortlich fühlen für den Erfolg des anderen. Mein Job ist es, unseren Mitarbeitern das erfolgreiche Arbeiten am Patienten zu ermöglichen. Der Job der Therapeuten ist es, den Patienten erfolgreich an sein Rehaziel zu begleiten.»

«In beiden Jobs muss man Menschen gernhaben und sich verantwortlich fühlen für den Erfolg des anderen.»

Irene Christen, CEO NRG-Holding

Dass sie Menschen mag und ihre Nähe sucht, wird auch an diesem Morgen deutlich. Die Geschäftsführerin begrüsst die sechs neuen Auszubildenden und nimmt am Morgen-Kick-off teil, mit dem alle Mitarbeitenden den Tag zusammen beginnen. Dann führt sie die Journalistin durchs Haus. Unterwegs schauen sie bei Meret Branscheidt vorbei. Die leitende Ärztin ist spezialisiert auf den Bereich Hirnstimulation. Vor ihr sitzt ein junger Patient aus dem arabischen Raum. Er erlitt eine Gehirnblutung und eine Rückenmarkverletzung. Die Medizinerin hält ihm ein schwarzes Gerät an den Kopf, das sein Hirn stimuliert, im Fachjargon spricht man von Transkranieller Magnetstimulation, kurz TMS. «Ich versuche, das Gehirn an die vierspurige Autobahn zu erinnern, die früher bis zu den Fingern bestand«, erläutert die Ärztin diese Therapie. 

Familien mit einbeziehen

Vor dem Behandlungsraum warten Vater und Bruder des Patienten. Auch diese begrüsst Irene Christen: «Bei uns im cereneo ist es wichtig, dass wir die Familie mit einbeziehen.» Wenn Patientinnen oder Patienten aus dem Ausland kommen, stellt die Klinik sicher, dass die Familie bei ihnen oder in nahe gelegenen Wohnungen logieren kann. Ein Drittel der internationalen Patienten kommt aus dem arabischen Raum, ein Drittel aus Europa und ein Drittel aus anderen Teilen der Welt wie etwa Südamerika. 

«Viele unserer Patienten leben im Alltag wie in einem 5-Sterne-Hotel.»

Irene Christine

Die beiden Schweizer Kliniken richten sich hauptsächlich an Menschen, die einen gewissen Luxus gewohnt sind: «Viele unserer Patienten leben im Alltag wie in einem 5-Sterne-Hotel», sagt Irene Christen und fährt fort: «Wir bieten Rehabilitation mit Unterkünften an, die diesem Standard entsprechen.» Als einmal Niki Lauda zur Behandlung am Vierwaldstättersee war, berichteten die Medien: «So luxuriös ist seine Reha-Klinik.»  

Personalisierte Behandlung

Aber auch allgemeinversicherte Patientinnen und Patienten aus der Schweiz werden aufgenommen: «Diese werden genau gleich gut behandelt», versichert Christen. Die Behandlung sei stark personalisiert, um alle bestmöglich zu fördern. Durch das angeschlossene Forschungszentrum könne cereneo neue Erkenntnisse und auch innovative Behandlungsmethoden anbieten, etwa mit Robotik, Sensorik oder Hirnstimulationen. «Für uns ist es wichtig, Erkenntnisse aus der Forschung möglichst schnell den Patientinnen und Patienten in der Praxis zugutekommen zu lassen», sagt die Geschäftsführerin: »Darauf sind wir als Betrieb besonders stolz.»

European Master of Occupational Therapy

Einst stand die ZHAW-Absolventin selbst vor der Frage, ob sie in die Forschung wechseln sollte: «Ich habe den Master in Ergotherapie gemacht, da ich neugierig war, ob ich in der Zukunft in die Forschung oder Lehre gehen möchte.» Den international ausgerichteten European Master of Occupational Therapy an der ZHAW erachtete sie als eine optimale Grundlage, um alle Wege für verschiedene Karrieren zu öffnen. «Ich lernte viel über wissenschaftliches Vorgehen und vernetzte mich mit denjenigen, die auch das gewisse Extra an Zusatzwissen suchten wie ich.» 

Statt in die Forschung ins Management

Mit der Zeit habe sie dann festgestellt, dass sie Generalistin sei und ihr das Management entspreche. Darauf habe sie sich dann fokussiert. Wichtig sei ihr aber, dass sie nach wie vor im Gesundheitswesen für Patientinnen und Patienten arbeite: «Das gibt meiner Arbeit Sinn und ich kann das an der ZAHW aufgebaute Wissen tagtäglich anwenden und davon profitieren.» Ihr bisheriger Werdegang sei deshalb optimal für ihre jetzige Tätigkeit: «Um eine Klinik zu führen, ist es ideal, wenn man das Interesse an Organisation, Management, Führung und Finanzen hat und dies gleichzeitig koppeln kann mit einem medizinischen oder therapeutischen Hintergrund.» Das erleichtere vieles in der Kommunikation mit den Mitarbeitenden in den medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Bereichen, aber auch mit den Forschenden, da man zu einem gewissen Grad deren Vokabular beherrsche und ein besseres Verständnis für den Arbeitsalltag mitbringe als jemand, der einen rein betriebswirtschaftlichen Hintergrund habe.

«Dank der Telemedizin soll ein nachhaltiger Erhalt der erreichten Fortschritte aus der Reha ermöglicht werden.»

Irene Christen

Zu ihren Aufgaben als Geschäftsführerin gehört es auch, die Kliniken zu repräsentieren und nach neuen Kooperationen Ausschau zu halten. Hierfür ist sie an vielen Anlässen und Kongressen unterwegs. «Als Frau fällt man hier unter den vielen vorwiegend älteren Herren im Anzug immer noch auf. Das kann auch ein Vorteil für die Klinik sein», sagt sie und lacht.

Tele-Reha für zu Hause

Seit ihrem letzten Karriereschritt auf die Position der CEO der NRG-Holding habe sie das Managementteam neu organisiert und viele operative Führungsaufgaben abgegeben. «Zu sehen, dass man mit einem starken Team arbeitet, macht mir Freude und gibt mir Freiraum, um mehr strategisch zu arbeiten.» Ein grosses Thema ist hierbei die Telemedizin. An diesem Tag steht denn auch eine Online-Sitzung mit der Niederlassung in Amsterdam an, wo cereneo ein Telemedizin-Zentrum aufbaut. Vor einem Jahr gegründet, soll es die Anschlusslösung für Patientinnen und Patienten nach dem stationären Aufenthalt in der Schweiz bieten, etwa auch für jene aus Dubai. Denn die einstige Praxis musste wegen der Corona-Pandemie vor zwei Jahren geschlossen werden. Mit Telerehabilitation sollen die Patientinnen und Patienten zu Hause weiter gefördert werden. «Falls notwendig, senden wir auch einen Therapeuten mit nach Hause, um den Übergang aus der Klinik sicher zu begleiten.» Dieser Wechsel sei immer eine grosse Herausforderung für Patienten und Familie. Ohne diese Kontinuität gingen die beim stationären Aufenthalt erlernten Fähigkeiten schnell wieder verloren. Dank der Telemedizin soll ein nachhaltiger Erhalt der erreichten Fortschritte aus der Reha ermöglicht werden, so die Idee.

Trennung zwischen Arbeit und Freizeit

Angesichts all der Aufgaben und Projekte, von denen sie berichtet, wird bald deutlich: In ihrem Büro mit der grandiosen Aussicht ist Irene Christen nur selten. Einen Tag pro Woche arbeitet sie auch im Homeoffice in Luzern. Eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit sei ihr aber sehr wichtig. Sie versuche, weder abends noch am Wochenende zu arbeiten: »Gelingen tut mir das meistens», sagt sie augenzwinkernd.  

In Luzern lebt sie mit ihrem Partner und künftigen Ehemann. Bald steht ihre Hochzeit an. Dass sie dennoch nicht im privaten Planungsstress ist, erklärt Irene Christen so: «Wir sind beide gute Planer und haben ein kleines Projektmanagement gemacht. Jetzt sind wir fertig und völlig entspannt», sagt sie am Ende des Rundgangs und verabschiedet sich in eines der Sitzungszimmer in der Klinik am schönen Vierwaldstättersee.

 

 

 

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