Erwachsenenschutz: Lea-Maria Leu will dem einzelnen Menschen gerecht werden
Lea-Maria Leu arbeitet bei der KESB. Nicht alle ihrer Klientinnen und Klienten kommen freiwillig zu ihr. In solchen Situationen menschlich zu bleiben, sieht die Masterabsolventin als eine wichtige Aufgabe.
Dreizehn Kilometer können einen Unterschied machen. So viel beträgt die Strecke zwischen Lea-Maria Leus Arbeitsort – der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in Dübendorf – und ihrer Wohnung in der Stadt Zürich. Gelegentlich joggt sie abends heim: Äusserer Abstand schafft inneren Abstand. «Manche Fälle lassen einen nach Feierabend nicht los», sagt die 31-Jährige.
Wir treffen uns an einem grauen Winternachmittag bei ihr zu Hause. Neben dem Esstisch hängt ein Schwarzweiss-Plakat der Cinémathèque suisse aus den Achtzigern, an eine andere Wand gelehnt stehen alte Bilder. Alles Erbstücke des Onkels – und Ausdruck von Leus privater Seite, die beinahe ihre berufliche geworden wäre.
Auf leise Art laut sein
Schon als Jugendliche interessierte sie sich für Kunst, und bis heute fotografiert, malt und druckt sie. Aber um auf diesem Gebiet eine Karriere einzuschlagen, habe ihr der Mut gefehlt. Aus früheren Tagen stammen auch ihre Tätowierungen, die an Hals und Armen aus dem Shirt ranken: florale Muster, Gefieder, Ornamente. «Das hatte sowohl mit Kunstaffinität wie auch mit meiner extrovertierten Introvertiertheit und mit Rebellion zu tun», sagt Leu lachend. «Ich wollte wohl auf leise Art laut sein.» Nur mässig motiviert absolvierte sie damals eine Handelsmittelschule. Als sie danach ein kaufmännisches Praktikum im Asylamt Biel machte, kam sie erstmals mit Sozialer Arbeit in Kontakt: Flüchtlinge sollten auf die Durchgangszentren im Kanton verteilt werden. Wie wird man dabei dem einzelnen Menschen gerecht?
«Ich will ihnen nicht sagen, wie sie leben sollen, sondern sie dabei unterstützen, wie sie leben wollen.»
Diese Frage beschäftigte sie, weshalb sie anschliessend befristet in einem solchen Zentrum in Reconvilier im Berner Jura Asylsuchende betreute. «Es war ziemlich trostlos», erzählt Lea-Maria Leu, «man konnte den Menschen kaum Abwechslung bieten, sie mussten einfach abwarten, manche von ihnen bis zu drei Jahren.» Nach einer Auszeit nahm Leu eine Stelle im IT-Support des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten an. Doch statt sich dort ein Informatikstudium bezahlen zu lassen, wie man es ihr anbot, entschied sie sich 2013 für ein Studium in Sozialer Arbeit.
Sie machte den Bachelor an der Fachhochschule Nordwestschweiz teilweise im vollen Pensum und arbeitete zusätzlich in zwei Jobs. «Ich war oft erschöpft», erinnert sich Leu. Heute würde sie das Pensum besser verteilen. Besser angepackt habe sie es bei der Wahl der beiden Studiumspraktika: «Sie halfen mir, meine berufliche Identität zu finden.» Als Erstes arbeitete sie in der Stiftung Netzwerk in Uster, einer Non-Profit-Organisation unter anderem für begleitetes Wohnen für junge Menschen zwischen 16 und 22 Jahren. Wer eine Wohnung haben wollte, musste eine Tagesstruktur nachweisen. Wer diese verlor, musste ausziehen. «Ich empfand das als hart. Und ich merkte, dass mir der stationäre Jugendbereich zu nah am eigenen Alltag war», erzählt sie. «Welche Nähe hält man aus und welche nicht? Auch das lernt man im Praktikum.»
«Welche Nähe hält man aus und welche nicht? Auch das lernt man im Praktikum.»
Das zweite Praktikum erfolgte 2015 bei ihrem heutigen Arbeitgeber, der KESB Dübendorf. Diese Behörde gab es damals erst seit zwei Jahren. «Zuerst hatte ich Vorbehalte, weil es ein Zwangskontext ist. Aber die Aufgaben sind eben auch sehr menschlich, und man muss sie menschlich angehen», betont Lea-Maria Leu. Bei der KESB arbeitet sie nun schon seit sechseinhalb Jahren, inzwischen als Fachmitarbeiterin und Ersatzbehördenmitglied.
Erwachsenenschutz gewinnt an Bedeutung
Im vergangenen Sommer schloss die gebürtige Burgdorferin ihr Masterstudium an der ZHAW ab: «Es ermöglichte mir die nötige fachliche Vertiefung. Und es hilft für das ‹Standing› am Arbeitsplatz neben Juristinnen und Psychologen.» Lea-Maria Leu beschäftigt sich in ihrem beruflichen Alltag überwiegend mit Erwachsenenschutz. Zu diesem Fachgebiet hat sie denn auch ihre beiden Abschlussarbeiten geschrieben. Beim Bachelor beschäftigte sie sich mit dem Entscheidungsfindungsprozess, beim Master mit Selbstbestimmung.
Durch die demografische Veränderung – unsere Gesellschaft altert – gewinnt der Erwachsenenschutz, vor allem für ältere Menschen, in der Sozialen Arbeit an Bedeutung. Laut der jüngsten Statistik der Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) bestand Ende 2020 in der Schweiz für fast 100 000 Erwachsene eine Schutzmassnahme. Das sind fast 10 000 mehr als noch drei Jahre zuvor.
Forschungslücke bei älteren Menschen mit Beiständen
Mit ihrer Masterthesis hat Leu eine Forschungslücke in Angriff genommen. Bisher existierten keine Studien dazu mit Fokus auf die Sicht von älteren verbeiständeten Personen, wie es im Behördenjargon heisst. «Ich fand das erstaunlich, zumal das 2013 revidierte zivilrechtliche Erwachsenenschutzrecht die Selbstbestimmung des Individuums in den Mittelpunkt rückte», sagt Leu.
Die Errichtung der Beistandschaft bringt gewisse Einschränkungen, aber auch Möglichkeiten mit sich. Wie dies erlebt wird, eruiert Leu in leitfadengestützten Interviews mit Personen im Alter von 68 bis 80 Jahren. Vier der fünf Befragten sahen vor allem die positiven Seiten, da sie bei administrativen und finanziellen Angelegenheiten entlastet wurden. Dass man hingegen um sein eigenes Geld sozusagen bitten müsse, empfanden manche als störend oder gar demütigend. «Das ist verständlich», räumt die KESB-Mitarbeiterin ein. Dennoch ist das Ergebnis ihrer Befragungen erhellend: Selbstbestimmung ist auch innerhalb von Grenzen durchaus möglich.
«Manche glauben, es sei ein undankbarer Job. Aber gerade im Erwachsenenschutz sind viele Menschen froh um Unterstützung.»
Am juristischen Kontext ihres Berufs schätzt Lea-Maria Leu, dass sie viele Fragen analytisch angehen kann, vom Eingang einer Gefährdungsmeldung bis zur Empfehlung für einen Entscheid. Trotz aller rationalen Abstraktion in der Fachabklärung ist sie überzeugt: «Es ist enorm wichtig, die betroffenen Menschen im ganzen Prozess mitzunehmen, auch wenn dazu mehrere Gespräche nötig sind.»
Undankbarer Job?
Die verbreiteten Vorbehalte gegenüber ihrer Arbeit kennt sie: «Manche glauben, es sei ein undankbarer Job. Aber gerade im Erwachsenenschutz sind viele Menschen froh um Unterstützung.» Und was antwortet sie jeweils auf den häufig geäusserten Vorwurf, die KESB verletze die familiäre Privatsphäre? «Leider geschehen die meisten Missbrauchsfälle innerhalb der Familie. Da muss man eingreifen können – zum Schutz der Betroffenen», betont Lea-Maria Leu. Wenn sich Menschen von ihr abgeholt fühlen, sieht sie sich in ihrer Tätigkeit bestätigt: «Ich will ihnen nicht sagen, wie sie leben sollen, sondern sie dabei unterstützen, wie sie leben wollen.»
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