Exkursion in die Zukunft der Food-Branche

11.04.2024
1/2024

Raus aus dem Hörsaal, rein in die Praxis – unter diesem Motto steht das Modul 360° des Masters Preneurship for Regenerative Food Systems. Studierende tauchten dabei in das Vorarlberger Lebensmittelsystem ein.

Klimawandel, schwindende Biodiversität, wachsende Weltbevölkerung – unser Ernährungssystem steht vor grossen Herausforderungen. Die Art und Weise, wie Lebensmittel produziert und konsumiert werden, muss sich ändern. Ein Ansatz sind dabei regenerative Lebensmittelsysteme. Statt in Wertschöpfungsketten interagieren hier die Akteurinnen und Akteure in Wertschöpfungsnetzwerken, um gesunde, genussvolle und klimapositive Nahrungsmittel bereitzustellen. Diese Netzwerke sollen dem Ökosystem mehr zurückgeben, als sie entnehmen, durch eine naturnahe und nachhaltige Lebensmittelproduktion oder durch Kooperationen von lokalen Konsumentinnen und Konsumenten mit Produzierenden. All dies soll letztlich auch zur Rettung unseres Planeten beitragen.

Ganzheitlicher Ansatz

Diesen ganzheitlichen Ansatz vermittelt das ZHAW-Masterprogramm Preneurship for Regenerative Food Systems (PREFS) im Modul 360°. Mit Regenerations-Expertin Denise Loga begeben sich Studierende auf eine Reise, um in die Welt von lokalen Lebensmittelunternehmen einzutauchen. Sie sollen erfahren, wie das Thema Regeneration in der Praxis konkret umgesetzt wird.

«Es handelt sich um einen neuen Ansatz, ein Unternehmen aufzubauen und im Einklang mit den Prinzipen der Natur zu führen.»

Denise Loga, Leiterin des Moduls 360°

Den Höhepunkt im ersten Durchgang stellte die Exkursion in eine spezifische Region dar – diesmal nach Dornbirn in Vorarlberg. «Die Wahl fiel auf diese Region aufgrund persönlicher Kontakte zu dortigen Initiativen», sagt Loga. Zudem zeichne sich Dornbirn durch einen perfekten Mix aus Tradition und Innovation aus: Dort gebe es viele Leute, die sich engagieren, kooperieren, innovativ handeln und ein gutes Netzwerk gebildet haben, um regenerative Lebensmittelsysteme zu ermöglichen.

Regeneration als Paradigmenwechsel

Bereits im Vorfeld der Exkursion entschieden sich die 14 Studierenden für ein Unternehmen: Ein Biohotel, ein Restaurant, ein gemeinwohlorientierter Mittagstisch und ein regenerativer Landwirtschaftsbetrieb standen  zur Wahl. «Vor Ort interviewten sie verschiedene Anspruchsgruppen des Unternehmens, darunter die Kundschaft, Zulieferer, Personal, Politik sowie andere Akteurinnen und Akteure des Netzwerks oder aus der Lebensmittelbranche.» Dadurch erkannten die Studierenden, wie umfassend das Konzept der Regeneration ist und dass es weit über die Lebensmittelproduktion hinausgeht.

«Es handelt sich um einen neuen Ansatz, die Wirtschaft zu verstehen, ein Unternehmen aufzubauen und im Einklang mit den Prinzipien der Natur zu führen sowie ökologische und soziale Systeme aufzubauen.» Bei diesem Paradigmenwechsel stehe nicht mehr Profit im Zentrum, sondern das Wohlergehen aller Lebe­wesen sowie die Kooperation unter den Anspruchsgruppen: Den einzelnen Akteurinnen und Akteuren werde mehr Wertschätzung entgegengebracht. Ein Bauer oder eine Bäuerin können sich beispielsweise eine 5-Tage-Woche einrichten und auch regelmässig Ferien machen.

In Dornbirn trafen die Studierenden auf Unternehmen, die ausgeprägt regenerativ und kooperativ zusammenzuarbeiten. «Sie tauschen nicht nur Wissen, sondern auch Maschinen oder Erzeugnisse aus», so Loga. Eine weitere Erkenntnis der Teilnehmenden des Moduls war, dass politische Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit eine regenerative Transformation auf allen Ebenen stattfinden kann.

Messgerät für Regeneration

Indem sie nicht nur ein Food­system und dessen Subsysteme untersuchten, sondern auch die politischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Perspektiven einbezogen, erhielten die Studierenden ­zudem einen Überblick, welche regenerativen Praktiken heute bereits umgesetzt werden. Sie stellten fest, wie sich diese auf den Erhalt der biologischen Vielfalt und die Verbesserung der Klimabilanz auswirken.

«Es war, als würde man das Licht einschalten und die komplexen Strukturen und Zusammenhänge innerhalb des Systems erst sichtbar machen.»

Fabiano De Gani, Masterstudent

Auf der Basis dieser Erkenntnisse und einer bereits existierenden Messmethode der Foodbranche entwickelten die Studierenden ein Instrument, das den Grad der Regeneration in einem Unternehmen wie auch in einer Region bestimmen können soll. Mit diesem wurden auch die involvierten Unternehmen gemessen, erklärt die Dozentin: «Beurteilungskriterien waren beispielsweise, wie viel ein Unternehmen einerseits zum Wiederaufbau der Natur oder andererseits zu deren Zerstörung beiträgt.»

Aha-Erlebnisse

Das 360°-Modul vermittle den Studierenden Aha-Erlebnisse oder, wie es Masterstudent Fabiano De Gani formuliert: «Es ermöglichte uns, tief in das Voralberger Lebensmittelsystem einzutauchen. Die persönlichen Gespräche waren unersetzlich. Es war, als würde man das Licht einschalten und die komplexen Strukturen und Zusammenhänge innerhalb des Systems erst sichtbar machen. Eine einzigartige und unvergessliche Erfahrung.»

Für seine Mitstudentin Lisa Renggli stellte der Besuch des Moduls eine Bereicherung dar. «Es ermöglichte mir, viele Erfahrungen zu sammeln und mein Profil zu vervollständigen.» Zudem sei sie positiv überrascht gewesen, wie viel Einsicht sie dadurch in Projekte, Firmen und die Gastronomie erhalten habe: «Wenn man offen auf die Leute zugeht, nehmen sie sich Zeit, sind offen, hilfsbereit, und ich konnte wertvolle Kontakte knüpfen.»

Was sind regenerative Lebensmittelsysteme?

«Wollen wir künftig die Bedürfnisse von zehn Milliarden Menschen decken und sie ernähren, müssen wir umdenken, und Unternehmen müssen wirtschaftlichen Erfolg anders definieren», sagt Maya Ladner, Studiengangleiterin des Masterstudiengangs in Preneurship for Regenerative Food Systems. Als ein Vorzeigebeispiel nennt sie die vegane Schweizer Molkerei New Roots. «Diese produziert pflanzlichen Käse aus Cashewkernen mit einem regenerativen Ansatz.» Neben einem starken Fokus auf eine biologische und faire Rohstoffqualität gehe New Roots einen Schritt weiter, setze auf traditionelle Fermentierungsprozesse anstelle künstlicher Inhaltsstoffe, investiere einen Teil ihres Umsatzes in tierethische Projekte, priorisiere die Unternehmenskultur und Diversität und produziere, ohne fossile Brennstoffe einzusetzen.

Ein Manifest mit 10 Thesen

Regenerative Lebensmittelsysteme wie dieses sind ein faszinierendes, grosses, aber noch wenig konkretisiertes Thema, sagt Maya Ladner. Gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen aus Forschung, Bildung und Wirtschaft arbeitet sie deshalb derzeit an einem Manifest für regenerative Lebensmittelsysteme. «In etwa zehn Thesen wollen wir dabei umschreiben, wie wir diese Systeme definieren und umsetzen wollen.» Die Thesen sollen inspirierend, motivierend und verbindend wirken und Klarheit schaffen. Gleichzeitig dürfe das Manifest nicht als abgeschlossene Definition verstanden werden. «Vielmehr soll es den Start einer gemeinsamen Reise mit Pioniercharakter markieren», sagt Ladner.

 «Regenerative Systeme ermöglichen eine ganzheitliche Lebensmittelwertschöpfung, die – aufbauend auf den bisherigen Nachhaltigkeitsbestrebungen – auf das Gedeihen des gesamten Systems zielt», sagt die Studiengangleiterin. Geschädigte Systeme werden dabei repariert und für maximale Widerstandfähigkeit neu gestaltet. «Wirtschaft und Konsum haben uns enorme Probleme geschaffen, Schadensbegrenzung reicht als Ziel nicht mehr aus. Wir brauchen schnell greifende Lösungen, ein globales Umdenken und eine Neudefinition des wirtschaftlichen Erfolgs.» Ladner unterstreicht dabei die Relevanz des holistischen Ansatzes: Der Fokus müsse auf die Beziehungen zwischen den Akteurinnen und Akteuren der Systeme gerückt werden. «Soft Skills wie Empathie, Geduld und Kompromissfähigkeit müssen dabei in den Vordergrund gerückt werden.»

Wichtige Themen

Weitere wichtige Themen sind der Umgang mit dem Boden in der Landwirtschaft, das Aufzeigen der wahren Kosten von Lebensmitteln, Change Management, Essen als sinnliche Erfahrung sowie Rechenschaftspflicht und Transparenz, Integration regenerativer Ideen in die Gesetzgebung und Politik sowie die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Transformation.

 «Es ist einfach, als Unternehmen einen Teil des Gewinns in CO2-Zertifikate zu investieren und sich damit zufriedenzugeben», sagt Ladner. Viel wichtiger sei es aber, sich als Unternehmung jeden Tag grundlegend zu hinterfragen, wo man noch besser werden und wie man mit jedem Prozess zur Regeneration beitragen könne. «Was auch für New Roots gilt, denn auch hier sind  Fragen rund um die Verpackung und die Verwertung von Cashew-Nebenströmen noch nicht vollständig beantwortet.»

Blockchain-Technologie zur Finanzierung regenerativer Food-Systeme

Ein bis anhin nicht gelöstes Problem auf dem Weg zur nachhaltigen oder regenerativen Transformation des Agri-Food-Sektors ist die Unterfinanzierung des Sektors beziehungsweise der sogenannte Financing Gap.

Kleine bis mittelständische Unternehmen der Agri-Food-Branche, seien es Höfe oder Lebensmittelverarbeiter, sind nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Europa chronisch unterfinanziert.

Der Financing Gap betrifft EU-weit rund 14 Prozent aller Landwirte und umfasst ein jährliches Volumen von über 20 Milliarden Euro (in der Schweiz existieren dazu keine Daten). «Das Schliessen dieses Financing Gaps wird der Schlüsselfaktor sein in Hinblick auf die regenerative Transition des Food-Systems», erklären die ZHAW-Absolventen Vinzenz Hahl und Manuel Schwizer in ihrer Masterarbeit in Preneurship for Regenerative Food Systems zum Thema «Distributed-Ledger-Technologie als Enabler zur Finanzierung landwirtschaftlicher Ökosystemdienstleistungen».

Denn die Umstellung auf nachhaltige und regenerative Praktiken ist in Form von Know-how und Investitionen in Betriebsmittel und Infrastruktur ressourcenintensiv. Paradoxerweise besteht nicht nur Finanzierungsbedarf aufseiten potenzieller Investees aus der Agri-Food-Branche – auch staatliche Organisationen und deren Subsidiäre wie etwa der European Investment Fund (EIF) sowie der privat- und finanzwirtschaftliche Sektor haben und zeigen ein Interesse an einer wirkungsgenerierenden Umleitung der Investitionsflüsse. Trotzdem existiert Stand heute kein valabler Ansatz, der die jeweiligen Stakeholder-Bedürfnisse angemessen berücksichtigt und es schafft, die losen Enden zu verknüpfen.

Zugang zu Kapital demokratisieren

«Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) bietet in diesem Rahmen vielversprechende konzeptionelle Lösungsansätze und eröffnet die Möglichkeit, die Lieferkette und ihre Stakeholder in finanzieller und technologischer Hinsicht grundlegend zu verändern», sagt Vinzenz Hahl. Bei heutigen Anwendungsfällen der Blockchain im Agri-Food-Sektor geht es aber hauptsächlich um die Steigerung der Faktoren Transparenz und Effizienz. Die Integration von Blockchain in das Internet of Things (IoT) könnte dabei allerdings insbesondere in Hinblick auf die von Investoren benötigte (echtzeitbasierte) Messung von ökologischen und sozioökonomischen Mehrwerten Antworten bieten, indem die Datenintegrität sichergestellt wird. Ausserdem ist die Tokenisierung dieser (Mehr-)Werte ein noch unterbeleuchteter und unausgeschöpfter Aspekt beziehungsweise  ein Vorteil, den eine DLT-basierte Applikation bieten könnte. Die Zerlegung von sicheren und glaubwürdigen «Real World»-Investmentwerten in Anteile (Fraktionierung) hat das Potenzial, den Zugang zu Kapital auch bedarfsseitig zu demokratisieren und anbieterseitig in Peer-to-Peer-Schemata handel- und verfügbar zu machen.

Sozialverträglicher Wandel

Ein entsprechender struktureller und systemischer Wandel hin zu Outcome-basierten Finanzierungs- und Monetarisierungsinstrumenten (die mindestens in der Initiationsphase nur mittels Private-Public Partnerships erreichbar sein werden) bietet aus dieser Perspektive grössere Erfolgsaussichten als der Versuch inkrementeller Verbesserungen in dem einen oder anderen (technologischen) Prozess.

«Wie anhand der zunehmenden Unzufriedenheit des Bauernstandes und von dessen Manifestation in diesem Frühjahr erkennbar ist, steht unsere Gesellschaft vor einer grossen Herausforderung, den regenerativen Wandel sozialverträglich zu gestalten», erklärt Manuel Schwizer. Die Wirksamkeit und Praktikabilität neuer Nachhaltigkeitsregulative wird also auch davon abhängen, ob und wie wir finanzielle Anreize für den «grünen Übergang» schaffen können.

Schliesslich benötigt die nachhaltige Transformation unseres Food-Systems innovative Lösungen, die es ermöglichen, finanzielle Anreize zu setzen, um gemeinsam als Gesellschaft auf das Ziel einer regenerativen und lebenswerten Zukunft hinzuarbeiten. Dafür ist ein starkes Engagement aller Beteiligten – von Landwirten und Verarbeitern über Investoren bis hin zu staatlichen Akteuren – notwendig.

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