Planetary Health Folge 6: Exponential Food Technology – Lebensmittelherstellung neu gedacht

11.04.2024
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In der Schweiz werden laut Food Waste Index Report 2024 der UNO jährlich 170 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf weggeworfen – europaweit ist das ein Spitzenwert. Das muss sich ändern. Exponential Food Technology eröffnet den Weg in ein Ernährungssystem, in dem Effizienz, Nachhaltigkeit und Gesundheit nahtlos ineinander übergehen.

Wir stehen an der Schwelle zu einer Ära, in der die Lebensmittelproduktion nicht nur schneller und effizienter wird, sondern auch smarter und umweltfreundlicher. Die Grundlage für diese Revolution bildet ein Zusammenspiel aus fortgeschrittenen Verarbeitungstechnologien, Datenanalytik und Künstlicher Intelligenz. Damit dies Realität wird, braucht es eine Änderung des Bewusstseins, des Denkens und nichts weniger als die Neuerfindung unseres Ernährungssystems.

Diese Exponential Food Technology steht nicht nur für die Steigerung der Produktionskapazität, sondern auch für die Verbesserung der Qualität und den Schutz der Umwelt. Sie leitet eine neue Ära ein, in der Lebensmittel nicht nur produziert, sondern smart kreiert werden – massgeschneidert für die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumentinnen und Konsumenten und den Erhalt unseres Planeten.

Vom statischen Rezept zur dynamischen Formulierung

Exponential Food Technology ist ein interdisziplinärer, datengesteuerter Ansatz, der bestehende und neue Verarbeitungstechnologien mit den Entwicklungen im Bereich des maschinellen Lernens, der Echtzeit-Analytik und der Sensortechnologien nutzt, um von einem standardisierten zu einem kategorisierten System der Lebensmittelproduktion überzugehen. Ein standardisiertes System führt zum Ausschluss, wenn die geforderten Parameter nicht erfüllt werden. Das Produkt kann dann nur noch als Tierfutter oder für Biogas verwendet werden oder endet als Food Waste. Im Gegensatz dazu können bei einer Kategorisierung Verarbeitungsparameter und die Formulierung des Endproduktes innerhalb bestimmter Grenzen angepasst werden, sodass das Produkt weiterhin als Lebensmittel für Menschen fungieren kann. Dieser innovative und flexiblere Rahmen erleichtert den Übergang von statischen Rezepten zu dynamischen Kompositionen, die auf Echtzeit-Datenanalysen und Präferenzen der Kundinnen und Kunden basieren.

Weniger Aus- und Abfälle

Mit dem Ersetzen der traditionellen Chargenverarbeitung (Batch, ein Rezept, welches diskontinuierlich verarbeitet wird) durch kontinuierliche Verarbeitungsmethoden steigert diese Technologie die Effizienz (z. B. Zeit, Ertrag, Platz, Arbeitskräfte) exponentiell, reduziert den Abfall und verbessert den Gehalt wertgebender Inhaltsstoffe (durch Vermeidung von Zeit-, Temperatur-, Oxidationsstress für empfindliche Substanzen). Durch diese synergetischen Verbesserungen steht die Technologie für ein anpassungsfähiges, selbstoptimierendes Netzwerk, das in der Lage ist, die Lebensmittelproduktion auf die sich wandelnden Verbraucherwünsche und Nachhaltigkeitsziele auszurichten und gleichzeitig nichtlineare, überproportionale Fortschritte bei Geschwindigkeit, Qualität, Kapazität, Vereinfachung und Kosten zu ermöglichen. Das System lässt sich an regionale Unterschiede und Trends anpassen, aber auch an die Verfügbarkeit verschiedener Rohwaren, die aufgrund von Klimaveränderungen immer stärker schwankt.

Von der Charge zum kontinuierlichen Prozess

In der Kakaoverarbeitung wendet unser Forschungsteam diese Technologie zum ersten Mal überhaupt im Lebensmittelbereich an. Die Extraktionsprozedur bei vergleichsweise niedrigeren Temperaturen begünstigt die Bewahrung des primären Aromas, welches die spezifischen Eigenschaften der Kakaobohnen wie Sorte, Region und Jahrgang des Ausgangsmaterials repräsentiert. Hierbei kommen ausschliesslich physikalische Prozesse zum Einsatz und kein anderes Lösungsmittel als Wasser. Indem Wasser eingesetzt wird, wird die Konzentration der Essigsäure und anderer unerwünschter flüchtiger Säuren erheblich vermindert. Bitter- und Gerbstoffe können abgetrennt oder so verändert werden, dass die Komposition im Endprodukt zielgruppenspezifisch angepasst werden kann. Dadurch wird es möglich, die Genussfähigkeit im Hinblick auf die Harmonieempfindung mit wenig Zuckerzusatz zu realisieren.

Vier essenzielle Elemente des Kakaos

Bei dem Verfahren gewinnt man vier essenzielle Elemente: Kakaobutter, Aroma, Kakaopulver und Kakao-Trockenextrakt. Diese Komponenten können weiterhin in verschiedenen Konfigurationen verarbeitet werden, um eine Vielfalt von Lebensmitteln und Functional Food herzustellen. Zudem ermöglicht die Extraktion eine zusätzliche Wertschöpfung, indem sie die breitere Akzeptanz und Verwendung aller erzeugten Produkte fördert. Insbesondere wird dies dadurch erreicht, dass die im konventionellen Prozess teilweise thermisch zerstörten monomeren Polyphenole, welche eine wichtige Rolle in der gesundheitlichen Wirkung von Kakao und kakaohaltigen Produkten spielen, gerettet werden.

Labor und Fabrik in einem – die Zukunft der Lebensmittelherstellung

Den Ort der Umsetzung dieser neuartigen Anwendungen nennen wir «Labtory» – eine Verschmelzung der Begriffe «Laboratory» (ein Ort des Experimentierens und der Innovation) und «Factory» (ein Ort der Produktion). Eine «Labtory» ist also sowohl ein Ort der wissenschaftlichen Entdeckung und technologischen Entwicklung als auch ein Ort der effizienten Produktion und Herstellung. Ein Ort, an dem exponentielle Lebensmitteltechnologien nicht nur entwickelt und getestet, sondern gleichzeitig zur Herstellung von Lebensmitteln in grossem Massstab eingesetzt werden. Durch die Kombination dieser beiden Konzepte impliziert das Wort «Labtory» einen integrierten Ansatz für die Lebensmittelproduktion, der die Entwicklung der Exponential Food Technology vorantreibt. 

Delegierte Photosynthese und molekulares Upcycling

Ein weiteres exponentielles Verfahren sind pflanzliche Zellkulturen. Die Erforschung der Energiegewinnung und -umwandlung in zellulären Organismen hat das innovative Paradigma der «delegierten Photosynthese» hervorgebracht. Zunächst betreiben Pflanzen Photosynthese, um ein spezialisiertes komplexes Nährmedium herzustellen. Dieses Medium dient dann als Grundlage in einem Bioreaktor, in dem pflanzliche Zellkulturen (z. B. Kakao oder Avocado) ein weiteres molekulares Upcycling durchführen. Interessanterweise wird dieser Prozess in beiden Stufen verfeinert, wobei die territorial gebundenen Pflanzen vom Feld primäre Photosynthese-Produkte liefern und die nachfolgenden Zellkulturen die Nährstoffzusammensetzung für den menschlichen Verzehr verbessern. Die aktuellen Erkenntnisse unterstreichen das Potenzial der «delegierten Photosynthese» bei der Bewältigung globaler Ernährungsprobleme und stellen ein Modell vor, das die menschliche Ernährung revolutionieren könnte. Die entwickelten Verfahren zur Medienherstellung und zur Vermehrung pflanzlicher Zellkulturen sind mit der kontinuierlichen Verarbeitung umfänglich kompatibel.

Alle Ströme sind Hauptströme

Exponential Food Technology ist mehr als nur eine neue Methode – es ist ein Paradigmenwechsel, der uns auf eine Reise mitnimmt, bei der jeder Schritt, jede Innovation und jede Verfeinerung Teil eines grösseren Ganzen ist: der Schaffung eines resilienten, nachhaltigen und gesunden Ernährungssystems für den Planeten und seine Bewohnerinnen und Bewohner.

Zu den Schreibenden

Das Unerwartete denken und schreiben ist das Motto von Gisela und Tilo Hühn. Gemeinsam verantwortungsvoll handeln, reflektieren und etwas bewirken sind die Eckpfeiler ihres Lebenskonzepts. Die beiden arbeiten als Forschende und Dozierende an der ZHAW: Gisela Hühn in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Prozessentwicklung, Tilo Hühn als Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -Prozessdesign. Ob an der Hochschule oder am Küchentisch: Beide diskutieren und arbeiten gerne – zu zweit oder mit anderen – zu zukünftigen Ernährungssystemen sowie zu der Frage, wie man bei der Verarbeitung mehr vom Guten aus Agrarprodukten erhält.

Die «Impact»-Serie Planetary Health

Ist unser Planet noch zu retten? Und wenn ja, wie? Um diese Fragen geht es in der neuen Serie «Planetary Health» des «Impact»-Webmagazins der ZHAW. Die Serie ist noch nicht fertig konzipiert, sondern kann sich, liebe Leserinnen und Leser, auch aus Ihren Anregungen und Wünschen weiterentwickeln. Die ZHAW-Forschenden Gisela und Tilo Hühn erklären in den ersten Folgen, wie wir mit Essen die Welt retten können. Schonkost kredenzen die beiden Forschenden nicht. Vielmehr tischen sie offen auf, woran unser Ernährungssystem krankt und welche negativen Einflüsse es auf die Umwelt hat. Garantierte Rezepte zur Genesung gibt es hier keine, sondern Gehirnfutter zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren. Denn: «Die Schlacht zur Rettung des Planeten wird auf dem Teller gewonnen.» Bis zum wohlverdienten Dessert ist es noch weit.

Wir freuen uns über Ideen und Anregungen gleich unten bei den Kommentaren.

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