Ist die Flexibilisierung des Rentenalters das Allheilmittel?
Die Flexibilisierung des Rentenalters ist neben der Erhöhung des Rentenalters für Frauen und der Mehrwertsteuererhöhung ein wichtiger Bestandteil der AHV-Reform 21, der das Parlament zugestimmt hat. Nicht alle applaudieren. Zwei ZHAW-Fachleute und ihre Meinungen.
Ja
Eine längst notwendige Reform
Viele Staaten haben ihre Rentensysteme in den letzten Jahren umfassend reformiert. Es zeigt sich, dass automatische Mechanismen, welche die drei Stellschrauben der Vorsorgesysteme – Beitragshöhe, Rentenniveau und Rentenalter – an sich verändernde demografische und ökonomische Rahmenbedingungen (z.B. Lebenserwartung, Bevölkerungsentwicklung usw.) anpassen, erfolgreich sind. Um eine finanzielle Nachhaltigkeit der Vorsorge sicherzustellen, reichen diese Automatismen. Es braucht nicht zwingend politisches Zutun.
«Viele Länder haben das Rentenalter angehoben. Inwiefern die Situation in der Schweiz ein Rentenalter 65 rechtfertigt, ist schleierhaft.»
Zudem sind in vielen Ländern die Rentenalter angehoben worden: Dänemark beispielsweise plant mit Alter 74, Estland und Italien mit 71, die Niederlande mit 69. Inwiefern die Situation in der Schweiz eine andere sein soll, die ein Rentenalter 65 rechtfertigt, bleibt schleierhaft. Mit der generellen Erhöhung geht in diesen Ländern oft eine Flexibilisierung des Rentenalters einher: Wer später geht, erhält eine höhere Rente. Wer früher geht, muss tiefere Renten in Kauf nehmen.
Schweiz tut sich schwer mit Reformen
Die Schweiz hingegen tut sich schwer mit den Reformen der Altersvorsorgesysteme. Wir sind seit der letzten grossen AHV-Revision 1997 faktisch handlungsunfähig. Die Schweiz fällt im Ranking gegenüber anderen Ländern immer weiter zurück. Ernüchterndes Fazit: Wir leisten uns ein mustergültig reguliertes System, das aber weder nachhaltig finanziert ist noch angemessene Leistungen sicherstellt.
Zwei häufige Argumente gegen Flexibilisierung
Axel Börsch-Supan, der deutsche Experte für Ökonomie und demografischen Wandel, hat sicher recht, wenn er meint, dass nicht die Demografie das Problem der Altersvorsorge sei, sondern die schwierig umzusetzenden Reformen. Er empfiehlt, die Herausforderungen zu separieren. Ich sehe das Problem im «Giesskannen-Prinzip». Weshalb? Die Antwort soll hier anhand von zwei häufig genannten Begründungen illustriert werden, die gegen eine Flexibilisierung des Rentensystems sprechen sollen.
1) Reformen führen zu sinkenden Renten. Die Renten sind aber heute schon tief!
Die Frage des Rentenniveaus ist zu trennen von der unbestreitbar wichtigen Frage der Prävention vor Altersarmut. Vielen Pensionierten geht es heute finanziell überdurchschnittlich gut. Von einem nicht nachhaltigen, zu hohen Rentenniveau nach Giesskannen-Prinzip profitieren unnötigerweise auch diejenigen, die es gar nicht nötig haben (die Millionärsdichte unter den Pensionierten ist besonders hoch). Das ist unsolidarisch gegenüber der jüngeren Generation.
Für diejenigen, welche finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, haben wir mit den Ergänzungsleistungen (die man durchaus ausbauen könnte) ein bewährtes Instrument. Zudem ist die Aussage sinkender Renten falsch: Die Renten steigen heute schon. Denn durch die längere Bezugsdauer infolge der zunehmenden Lebenserwartung steigt die ausbezahlte AHV-Rentensumme pro Rentnerin und Rentner laufend an, notabene bei gleichbleibender Beitragsdauer. Um das Leistungsniveau stabil zu halten, müssten die monatlichen Renten eigentlich sinken.
2) Wer will schon ältere Arbeitnehmer! Wer kann schon so lange arbeiten!
Tatsächlich haben ältere Arbeitslose oft Mühe, wieder eine Stelle zu finden. Und in einigen Berufen ist die körperliche oder mentale Belastung sehr hoch. Auch für diese Herausforderungen ist die unflexible Giesskanne des Rentensystems nicht ideal. Denn die meisten älteren Arbeitnehmenden sind gut im Arbeitsmarkt integriert (deren Arbeitslosenquote ist tiefer als bei den Jungen) und der Fachkräftemangel wird eher zu- als abnehmen. Viele Berufe (man denke zum Beispiel an Hochschuldozierende) und der zunehmend gute Gesundheitszustand der Bevölkerung erlauben es zwar nicht allen, aber doch vielen, länger zu arbeiten als die Generation, die in den 1880er Jahren geboren wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg eine erste AHV-Rente erhalten hat (bereits damals war das Rentenalter auf 65 festgelegt). Gesucht sind flexible Lösungen dort, wo es notwendig ist (z.B. Branchenlösungen).
«Ein Schuh durchschnittlicher Grösse ist für die eine Hälfte der Bevölkerung zu klein und für die andere Hälfte zu gross.»
Vorsorgesysteme sind Umverteilungsmaschinen erster Güte, wie Charles Blankart, Schweizer Volkswirt, betont hat. Die unsystematische Giesskannenlösung ist teuer, intransparent und wirkt vielfach nicht zielgerichtet. Zudem wird so der Blick auf die tatsächlichen Probleme verstellt. Ein Schuh durchschnittlicher Grösse ist für die eine Hälfte der Bevölkerung zu klein, für die andere zu gross. Eine Flexibilisierung wirkt zudem gegen eine viel grössere Gefahr für die solidarische Altersvorsorge: den schleichenden Trend hin zur Individualisierung.
Nein
Sie hält nicht unbedingt, was sie verspricht
Seit der Veröffentlichung unserer Studie zu flexiblen Rentensystemen in verschiedenen Ländern vor zwei Jahren hat sich politisch einiges verändert. Das Parlament hat dem Stabilisierungspaket für die AHV zugestimmt. Die Gewerkschaften machen dagegen mobil. Voraussichtlich kommt es im September zu einer Volksabstimmung.
Interessanterweise wird in der Öffentlichkeit sehr viel über die Erhöhung des Rentenalters für Frauen und über die höhere Mehrwertsteuer für alle diskutiert. Viel weniger aber über die Flexibilisierung des Rentenübergangs, welche ein flexibles Rentenalter und den Bezug von Teilrenten ermöglichen soll. Unumstritten ist aber auch dieser Aspekt nicht.
In der Vorlage ist eine Flexibilisierung des Rentenalters zwischen 63 und 70 Jahren vorgesehen, versehen mit einem finanziellen Anreizsystem. 65 Jahre gilt dann als Referenzalter in der AHV und in der obligatorischen beruflichen Vorsorge. Wer sich vor diesem Referenzalter zur Ruhe setzt, erhält Abzüge bei der Rente. Wer das später tut, erhält Zuschläge. Zudem können Teilrenten bezogen werden, welche einen gleitenderen Übergang vom Berufsleben in die Rente fördern sollen.
«Sollen ältere Beschäftigte länger im Arbeitsleben verbleiben, braucht es noch andere spezifische
Gesundheitsmassnahmen.»
Ein Beweggrund für die Einführung von flexiblen Rentensystemen – in der Schweiz und anderen Ländern – ist, einen Anreiz für einen längeren Verbleib im Arbeitsleben zu setzen. Ein weiterer Beweggrund ist, der Gesundheit älterer Arbeitnehmender stärker Rechnung tragen zu können, indem Teilzeitarbeit gefördert wird und der Zeitpunkt des Eintritts in die Rente den individuellen Bedürfnissen angepasst werden kann. Unsere eigene Forschung sowie Studien aus anderen Ländern zeigen jedoch, dass diese Ziele nicht unbedingt erreicht werden.
Wer arbeitet länger?
Wir untersuchten in einer Studie über einen längeren Zeitraum Länder, die das flexible Rentenalter schon kennen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Flexibilisierung des Rentenalters nicht zwingend dazu führt, dass Menschen länger arbeiten. Diese Erkenntnis deckt sich mit einer Studie von Axel Börsch-Supan und Kollegen von 2018, die in der Zeitschrift «Economic Policy» publiziert wurde. Zudem hat unsere Studie gezeigt, dass nicht unbedingt jene Personen, die gesundheitliche Schwierigkeiten haben, frühzeitig in Rente gehen. Auch diese Erkenntnis deckt sich mit bisherigen Studien. Insgesamt konnten wir zeigen, dass flexible Rentensysteme unterschiedliche Auswirkungen haben können, je nachdem, in welchen wohlfahrtsstaatlichen Kontext sie eingebettet sind. Tendenziell findet in liberalen Wohlfahrtsstaaten wie den USA oder Chile mit verhältnismässig tiefen Rentenleistungen der Rentenübergang später statt als in skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit grosszügigen und umfassenden Leistungen.
Teilrenten und Teilzeitarbeit
Im vorliegenden Schweizer Gesetzesentwurf liegt der Fokus einseitig auf dem flexiblen Rentenalter. Bei diesem ist jedoch ungewiss, ob er wirklich den erwünschten Effekt hat. Möchte man erreichen, dass ältere Arbeitnehmende länger im Arbeitsleben verbleiben, dann reicht es möglicherweise nicht aus, ein flexibles Rentenalter einzuführen. Es braucht noch andere Massnahmen, die ganz spezifisch auf die Gesundheit der Menschen abzielen, sei es allgemein oder dort, wo Leute krank werden oder wo sich Unfälle ereignen. Aus diesem Grund könnte der Aspekt der Teilrenten mit der expliziten Möglichkeit zur Teilzeitarbeit ausgeweitet werden. Solche Investitionen können sich für den Einzelnen aber auch für die Gesellschaft als Ganzes lohnen.
Teilzeit: Arbeitgeber kann sie anordnen, Arbeitnehmer kann sie nicht einfordern
In der jetzigen Form der Vorlage gibt es zwar Überlegungen dazu, indem betont wird, dass Teilzeitarbeit gefördert werden soll. Allerdings gibt es hierzu keine bindenden Massnahmen. Die wären aus meiner Sicht aber wichtig. Wie eine ZHAW-Studie von Sabine Steiger-Sackmann von 2018 zeigt, gibt es in der Schweiz hinsichtlich Teilzeitarbeit bisher keine gleich langen Spiesse zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden. Während Arbeitgebende Teilzeit anordnen können, können Arbeitnehmende sie nicht einfordern – im Unterschied zum Beispiel zu den Niederlanden oder Deutschland.
«Ein Recht auf Teilzeitarbeit könnte als Ergänzung der AHV 21 in Betracht gezogen werden.»
Eine Studie von François Höpflinger von 2019 hat gezeigt, dass Personen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, fast immer Teilzeit arbeiten. Das ist ein Hinweis darauf, dass ältere Arbeitnehmende teilweise bereits vor dem Erreichen des Rentenalters das Bedürfnis haben könnten, Teilzeit zu arbeiten. Ein Recht auf Teilzeitarbeit könnte daher als Ergänzung der AHV 21 in Betracht gezogen werden. Allerdings bedeutet ein Recht auf Teilzeitarbeit noch nicht, dass es sich alle leisten können. Hier bräuchte es weitere Massnahmen, z. B. finanzielle Abfederungen in Form von erweiterten Ergänzungsleistungen, insbesondere für Personen mit tiefen Löhnen oder Unterbrüchen in den Karrieren etwa wegen Elternschaft oder Arbeitslosigkeit.
Um ältere Arbeitnehmende länger im Arbeitsmarkt zu halten und ihre Gesundheit zu erhalten und zu fördern, braucht es also mehr als die Flexibilisierung des Rentenalters.
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N
@Baumgartner Man sollte schon anerkennen, dass ungleich lange Spiesse vorliegen zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden. Die von Ihnen zitierte Formulierung ist vielleicht spitz gewählt, aber die Entscheidungsasymmetrie ist in meinen Augen evident. Dieser Beitrag legt nahe, dass erste Erfahrungen mit der Flexiblisierung des Rentenalters in anderen Ländern auf Probleme hinweisen bei der Umsetzung und die erhofften Effekte nicht erreicht werden. Ergänzende Massnahmen wie die Incentivierung von Teilzeitarbeit für Menschen im höheren Lebensalter könnte hier Abhilfe schaffen. -
R
"Während Arbeitgebende Teilzeit anordnen können, können Arbeitnehmende sie nicht einfordern...". Die Frau hat keine Ahnung von Arbeitsrecht. Niemand kann Teilzeit anordnen. Soll der Beschäftigungsgrad geändert werden, braucht es dazu eine Vertragsänderung. Und dafür müssen beide Parteien einverstanden sein. Es ist höchste Zeit, dass das Frauenrentenalter dem der Männer wieder gleichgestellt wird. Die Mehrwertsteuererhöhung ist hingegen das Dümmste, was man machen kann, besonders in sowieso schon inflationären Zeiten.
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