Mehr Spass beim Üben
Serious Games – ernsthafte digitale Spiele –, die vor allem in der Bildung oder der Gesundheit eingesetzt werden, können bei Menschen mit Knieverletzungen oder bei Kindern mit Schreibschwierigkeiten helfen. Die ZHAW hat dazu innovative Projekte.
Man bewegt sich mitten durch eine Stadt ‒ vorbei an modernen Häuserfronten, über einen der Himmel. Mal muss man sich ducken, mal in die Höhe springen. Mal steht man auf einem Bein, mal gilt es, vorbeiziehende Punkte anzutippen. Die Aufgaben werden anspruchsvoller, der Ehrgeiz erwacht. Spätestens im «Dome», wo man rasch wechselnde Farbflächen «erwischen» muss, gerät man ins Schwitzen.
Wer mit «The Dome» in einem ExerCube trainiert, wird herausgefordert. Ein ExerCube ist wie ein grosser Würfel, bei dem Nutzerinnen und Nutzer von drei Video-Wänden umgeben sind und als Hauptfiguren in einem Videospiel agieren und dabei trainieren. «Das Spiel ‘The Dome’ ist kognitiv und körperlich anspruchsvoll», sagt Eveline Graf, Leiterin des Bewegungslabors am ZHAW-Institut für Physiotherapie. «Es motiviert einen spielerisch dazu, einzelne Bewegungen immer wieder zu repetieren.» In der Rehabilitation nach Knieverletzungen, wofür das Game konzipiert ist, kommt man darum nicht herum.
«Es motiviert einen spielerisch dazu, einzelne Bewegungen immer wieder zu repetieren.»
Bevor man in die virtuelle Welt eintaucht, werden an Hand- und Fussgelenken Tracker befestigt. Sie ermöglichen es den Kameras, die Bewegungen einzufangen. Dann positioniert man sich auf einer Markierung zwischen den drei Wänden, streckt die Arme aus und lässt so seine Körpergrösse feststellen. Nun kann das Spiel starten. «Es beinhaltet typische physiotherapeutische Übungen, die nach einem Kreuzbandriss wichtig sind», sagt Michelle Haas, wissenschaftliche Mitarbeiterin. Neben der Stabilität werden Agilität und Tempo trainiert. Wie gut dies gelingt, meldet das Game optisch und akustisch zurück. Abschliessend listet es die erbrachte Leistung detailliert auf.
So entsteht ein Exergame?
Das Game richtet sich an Menschen, die das Kreuzband verletzt haben und in der Rehabilitation fortgeschritten sind.
Das Exergame «The Dome» ist vom ZHAW-Departement Gesundheit zusammen mit dem Departement Design der ZHdK und der Sphery AG entwickelt und von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) finanziert worden. Es richtet sich an Menschen, die das Kreuzband verletzt haben und in der Rehabilitation fortgeschritten sind. Sie sind mit den Übungen vertraut und befinden sich in der Phase, bevor sie das ordentliche Training wieder aufnehmen können. «Häufig fehlt ein Trainingsplan für diesen Übergang», sagt Michelle Haas, die ihre Masterarbeit zu dem Projekt geschrieben hat. Entsprechend hoch sei die Gefahr, sich erneut zu verletzen.
Dass sich das Spiel Knieverletzungen widmet, hat damit zu tun, dass diese in vielen Sportarten vorkommen und sehr häufig sind. Sie seien einschneidend und erforderten neun bis zwölf Monate Therapie, sagt Projektleiterin Graf. «Viele Sportlerinnen und Sportler erreichen nicht ihr ursprüngliches Niveau.»
Nahe an realen Situationen
«The Dome» hilft Betroffenen, an Sicherheit zu gewinnen. Es animiert sie dazu, auch einmal ans Limit zu gehen. Das digitale Tool spricht mehrere Sinne an. Die Trainierenden sind verschiedenen Reizen ausgesetzt und werden abgelenkt, sodass das verletzte Knie vergessen geht. Ihre Bewegungen fallen weniger kontrolliert aus als in einer klassischen Physiotherapiesitzung. Im ExerCube kommen sie realen Situationen etwa auf dem Fussball- oder Tennisplatz nahe. «Das Game schliesst eine Lücke in der Rehabilitation», betont Eveline Graf. Es bereite Menschen auch mental darauf vor, in ihren Sport zurückzukehren. Angesprochen würden nicht nur Profis, sondern auch Breitensportlerinnen und -sportler.
«Exergames können eine klassische Physiotherapie ergänzen», fährt die Wissenschaftlerin vor. «Sie können die Intensität des Trainings erhöhen.» Die Aufgabe der Therapeutinnen und Therapeuten sei es, ein Spiel der individuellen Situation angepasst einzusetzen. «The Dome» verfügt aktuell über drei Levels. Dereinst könnte es sich dem Fortschritt der Nutzerinnen und Nutzer laufend anpassen. Die Projektpartner verfolgen ihr 2021 gestartetes Projekt «ExerUP» weiterhin. Sie wollen unter anderem erforschen, wie wirksam und attraktiv das Spiel ist. Und Eveline Graf stellt zufrieden fest: «Wir erhalten begeisterte Reaktionen – das Training macht Spass.»
Damit Kinder gerne Schreiben üben
Spielerisch vorankommen sollen ebenso Kinder, die beim Schreiben Schwierigkeiten haben. Sie sollten an sich intensiv üben, fänden dies aber oft langweilig und mühsam, sagt Frank Wieber, stellvertretender Leiter der Forschung am ZHAW-Institut Public Health. «Was sie tun sollten und tatsächlich tun, geht zuweilen weit auseinander.» Ein Serious Game könne sie motivieren, ihre grafomotorischen Fähigkeiten regelmässig zu trainieren.
«Auch wenn wir im Alltag immer mehr digital erledigen, bleibt das Schreiben von Hand zentral.»
Es lohne sich, Schreibschwierigkeiten früh anzugehen, betont Annina Zysset, wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie zählten zu den häufigsten Lernstörungen. Sie erschwerten es Schulkindern, dem Unterricht zu folgen und sich zu beteiligen. Sie könnten darüber hinaus zu emotionalem Frust und einem geringen Selbstwert führen. «Je früher man sie behandelt, desto besser.» Ein interdisziplinäres Team der ZHAW, der ZHdK und der PH Zürich hat dafür die «Konditorei Kritzel» entwickelt; es ist dabei von der Digitalisierungsinitiative des Kantons DIZH finanziell unterstützt worden. Das Spiel regt dazu an, Schwungübungen möglichst genau, mit passendem Druck und in einer gewissen Zeit auszuführen. Am Tablet gilt es, eine mehrstöckige Torte zu verzieren. Die Muster wechseln von Etage zu Etage, zuweilen kann man seiner Kreativität freien Lauf lassen. Ist das Werk vollendet, muss es noch ausgeliefert werden. Auf einer Karte ist der Weg zur entsprechenden Adresse einzuzeichnen.
Nutzende erleben, dass sich üben lohnt
Damit die Spielenden dranbleiben, erhalten sie laufend Feedbacks. Für gute Leistungen werden sie belohnt. Sie haben Erfolgserlebnisse und machen die Erfahrung, dass sie weiterkommen.
«Auch wenn wir im Alltag immer mehr digital erledigen, bleibt das Schreiben von Hand zentral», sagt Frank Wieber. Es helfe, Wissen zu festigen und wiederzugeben. Dass regelmässiges Training zu Verbesserungen führe, sei wissenschaftlich gut dokumentiert. Ein Game könne zudem dazu beitragen, Schreibschwierigkeiten zu entstigmatisieren. Es sei attraktiv und unterhaltsam: «Alle wollen es spielen – auch Kinder ohne Problem.»
«Konditorei Kritzel» sei bewusst niederschwellig konzipiert, ergänzt Annina Zysset. Das Spiel passe sich individuell an und könne von Lehrpersonen ohne weiteren Aufwand eingesetzt werden. Es brauche kaum Instruktionen und funktioniere ohne Internetverbindung oder persönliche Accounts. Das digitale Tool soll zunächst in der Schule zum Einsatz kommen. Es ist zeitlich limitiert; nach 20 Minuten wird ein Level abgeschlossen.
Die Chancen digitaler Tools bewusst nutzen
«Man muss sich gut überlegen, ob man Kinder an einen Bildschirm bringt», sagt Frank Wieber und räumt ein, dass sich ethische Fragen stellen. Beispielsweise haben Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) ein erhöhtes Risiko, ein Suchtverhalten zu entwickeln. Sie haben überdurchschnittlich häufig Mühe mit Schreiben und zählen zur Zielgruppe des Projekts. «Entscheidend ist, wie man die Chancen von Serious Games nutzt», sagt der Psychologe. Das Spiel selbst, aber auch wie es eingesetzt werde, müsse ethisch vertretbar sein.
«Konditorei Kritzel» hole die Nutzerinnen und Nutzer auf mehreren Ebenen ab, berichtet Zysset. «Es ist für jeden etwas dabei: für die Kreativen, die Ehrgeizigen und die Spielvögel.» Die Pilotversuche hätten dies bestätigt. Kinder spielten das Game mit Freude – und verbesserten dabei ihre motorischen Fähigkeiten: «Sie üben, ohne sich dessen bewusst zu sein.»
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