Mutterseelenallein im Nirgendwo
Zürich–Santa Cruz de la Sierra: Die angehende Sozialarbeiterin Livia Reutimann absolvierte ein Praktikum in Bolivien bei der Organisation «Gotita Roja», welche mittellosen Personen den Zugang zu Medikamenten und Behandlungen ermöglicht und Müttern von krebskranken Kindern einen Arbeitsplatz in einer Sozialwerkstatt anbietet.
Seit sieben Jahren bin ich in der Schweiz im Vorstand von «Roter Tropfen», dem Schweizer Pendant von «Gotita Roja». Vor einigen Jahren leistete ich einen einmonatigen Einsatz im Onkologischen Institut von Santa Cruz de la Sierra. Für das zweite Praktikum meines Studiums nutzte ich die Chance, noch mehr Einblick in die Arbeit von «Gotita Roja» zu gewinnen und mein Spanisch zu verbessern. Ich besuchte dort Familien, deren Kinder in Behandlung sind, die meisten wegen Leukämie. Ich führte Gespräche und fotografierte ihr Zuhause, um der Organisation ein besseres Bild der Krankheitsgeschichten und der Lebenssituationen zu vermitteln.
Intime Einblicke
Die Gespräche waren emotional sehr anspruchsvoll. Manchmal fühlte ich mich als Eindringling. Oft wurde ich aber herzlich aufgenommen und war beeindruckt von dem Vertrauen, das mir die Familien entgegenbrachten. Ihre Geschichten berührten mich sehr – nicht nur die Krebserkrankungen. Viele Frauen waren früh Mutter geworden. Einige kannten nichts anderes, andere waren schlichtweg nicht aufgeklärt. Einmal pro Woche organisierte ich eine Fachperson, etwa eine Gynäkologin, zur Aufklärung über Sexualität und Verhütung. Und alle zwei Wochen bot ein Psychologe eine Sprechstunde für die Mütter über Video an.
Die reinste Odyssee
Zu den Familien zu finden, war immer ein Abenteuer. Sie wohnten meist ausserhalb der Stadt, wo es keine Strassennamen gibt. Ich erhielt jeweils den Standort über Google Maps und Anreisetipps via Sprachnachricht. Anfangs nahm ich ein Taxi, doch das wurde mir schnell zu teuer. Ausserdem wollte ich mehr am lokalen Leben teilnehmen. So kämpfte ich mich mit dem öffentlichen Verkehr durch und musste teilweise sehr hartnäckig sein. Manchmal landete ich an völlig falschen Orten. Einmal hatte mir eine Frau Fotos und Infos geschickt, aber der Bus fuhr dann in eine andere Richtung. Als ich ausstieg und allein durchs Nirgendwo lief, fand ich mich plötzlich inmitten eines Treffens von etwa 50 Riesentrucks und einer Gruppe Männer wieder, die mich neugierig beäugten. Sie waren aber zum Glück äusserst hilfsbereit. Es stellte sich heraus, dass ich falsche Koordinaten erhalten hatte. Als ich Stunden später vor dem gesuchten Haus stand, fiel mir auf, dass mein Bus genau an diesem Haus vorbeigefahren war. Solche Situationen erlebte ich zuhauf. Anfangs war alles sehr schwierig: Ich verstand die Sprache nicht gut, durch die Gesichtsmasken noch weniger, und fühlte mich als Frau unsicher. Mit der Zeit fand ich mich aber gut zurecht und bin stolz darauf, wie ich an den Herausforderungen gewachsen bin.
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