Neue Therapie nach Schlaganfall: Virtuell Äpfel pflücken
Game-orientierte Methoden können eine Therapie nach Schlaganfall motivierend und messbar gestalten. Mit Augmented Reality und einem dynamischen Stuhl haben ZHAW-Forschende eine neue Therapieform entwickelt.
Er tritt meist plötzlich ein und Betroffene brauchen schnelle Hilfe. Jedes Jahr erleiden etwa 16’000 Schweizerinnen und Schweizer einen Schlaganfall. Für ein Viertel der Betroffenen endet die plötzliche unterbrochene Blutzufuhr in einem Bereich des Gehirns tödlich. Ein weiteres Viertel trägt massive bleibende Schäden davon. Die restlichen Betroffenen können sich nach dem Hirnschlag teilweise wieder regenerieren, bei der Hälfte davon bleiben sogar so gut wie keine motorischen Schäden zurück.
Gute Rumpfstabilität verbessert generelle Motorik
Nach einem Schlaganfall ist es enorm wichtig, schnell eine effektive und individuell angepasste Reha-Therapie zu beginnen. Dazu gehören auch Übungen, die dabei helfen, die Rumpfkontrolle wiederherzustellen. Denn es hat sich gezeigt, dass eine gute Rumpfstabilität mit der Ausübung alltäglicher motorischer Funktionen einhergeht.
Nach Früchten greifen
Genau dort setzt das Innosuisse-Projekt Holoreach an, das in Zusammenarbeit mit den Departementen School of Engineering und Gesundheit, den Kliniken Valens sowie den Firmen Bitforge und rotavis 2018 gestartet ist. Das ZHAW-Team um Projektleiter Daniel Baumgartner und seinen Stellvertreter Christoph Bauer entwickelte mithilfe von Augmented Reality (AR) und einem am Institut für Mechanische Systeme entworfenen dynamischen Stuhl ein virtuelles Trainingsprogramm, womit die Rumpf- und Armfunktion von Schlaganfallpatientinnen und -patienten trainiert werden können.
Mit der AR-Brille, welche die Wahrnehmung der Realität erweitert, sehen die Patientinnen und Patienten Gegenstände wie Äpfel, Bananen oder Birnen vor sich im Raum schweben. Für die Übungen müssen sie nun nach diesen Gegenständen greifen, wobei man den Rumpf durch den sich mitbewegenden Stuhl mit mobiler Sitzfläche immer wieder neu ausbalancieren muss. Dadurch lernen die Patientinnen und Patienten, Rumpf und Arme besser zu kontrollieren und damit zu stabilisieren.
Wiederholtes Training für Körper und Gehirn
Das Video zeigt, wie das Training mit AR-Brille und beweglichem Stuhl funktioniert.
Eine wichtige Rolle kommt dabei der Wiederholbarkeit der Übungen zu: «Wir wissen, dass Repetition entscheidend ist für die Wiedererlangung von körperlichen Fähigkeiten», erklärt Projektleiter Daniel Baumgartner. Das ist auch für ältere Patienten noch möglich, da das Gehirn bis ins hohe Alter lernfähig ist. «Man bezeichnet dies als Plastizität des Gehirns, also die Fähigkeit, sich durch wiederholtes Training zu verändern und neue neuronale Netzwerke zu bilden», so Baumgartner, «Diese sogenannte Reorganisation des Gehirns mit Bildung neuer synaptischer Verbindungen ermöglicht so das Wiedererlernen der motorischen und kognitiven Fähigkeiten.»
«Repetition ist entscheidend für die Wiedererlangung von körperlichen Fähigkeiten.»
Daher eignen sich die Übungen mit Holoreach gut für Schlaganfallpatientinnen und -patienten, die zum Grossteil älter als 60 Jahre sind. Die virtuelle Übung ermöglicht es, den individuellen Trainingsfortschritt genau zu verfolgen, da jede Patientin und jeder Patient Einblick in die jeweiligen Trainingsdaten hat. Der Schwierigkeitsgrad erhöht sich zudem je nach Fortschritt der Patientin oder des Patienten.
Wenig Reha-Angebote für Rumpftraining
«Im Gegensatz zum Bein- und Armbereich gibt es für die Regeneration der Rumpffunktionen nach einem Schlaganfall noch wenig Trainingsangebote», sagt Baumgartner. Neben der Sitzball-Therapie existiert zwar die durchaus wirksame Hippotherapie, eine Therapieform mit Pferden. Diese ist aber recht personal- und kostenintensiv und wird zudem bei einer Schlaganfall-Reha nicht von der Krankenkasse bezahlt. Die durch Holoreach entwickelte Trainingsmethode stellt also eine effektive Rumpftherapie dar, die die Intensität der Reha erhöhen kann. Bei der späteren kommerziellen Anwendung von Holoreach ist neben dem Einsatz in Kliniken auch eine Nutzung als Heimtherapie vorstellbar. Auch ein Verleihsystem der noch relativ teuren AR-Brille ist denkbar.
Möglichkeiten des 3D-Sitzens erweitern
Bei einer Usability-Studie, an der 15 Schlaganfallpatientinnen und -patienten und fünf Physiotherapeuten teilnahmen, sprach die Mehrheit gut auf die Therapie an und berichtete von einer positiven Erfahrung. Die Teilnehmenden wünschten sich aber noch mehr Variationen bei den Übungen. Die Wünsche blieben nicht unerhört: «Wir wollen die Software und die Möglichkeiten des 3D-Sitzens auf jeden Fall noch weiter optimieren», erklärt Baumgartner. Dafür wurde das Projekt bis 1. Oktober dieses Jahres verlängert.
Neue Technologien für das Alter
Welche Chancen und Risiken ergeben sich beim Einsatz von sozialen Robotern? Wie können technische Lösungen die Vernetzung und Versorgung älterer Menschen im Quartier fördern? Wie werden virtuelle Trainingsprogramme in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall genutzt? Und mit welchen digitalen Hilfsmitteln kann der Einsamkeit zu Hause lebender, pflegebedürftiger Menschen entgegengewirkt werden? Diesen Fragen gingen Forschende der Departemente Gesundheit, Life Sciences und Facility Management sowie der School of Engineering nach. Ihre Erkenntnisse zum Technikeinsatz bei älteren Menschen präsentieren sie an einer Veranstaltung an der ZHAW-Hochschulbibliothek in Winterthur.
0 Kommentare
Sei der Erste der kommentiert!