Modellbasierte Entscheidungsunterstützung

Unterstützung von Entscheidungen: Wo Modelle an Grenzen stossen

05.12.2023
4/2023

Steht in der Wirtschaft oder der Politik ein weitreichender Entscheid an, stützen sich die Verantwortlichen gern auf Modellrechnungen. Doch solche Modelle haben ihre Grenzen, wie die Corona-Pandemie zeigte.

Was wäre, wenn …? Diese Frage stellte sich während der Corona-Pandemie fast täglich. Was wäre, wenn eine Maskenpflicht angeordnet würde? Und später: Wenn der Bundesrat die Schliessung der Restaurants aufheben würde? Die Folgen solcher Entscheidungen sind kaum zu überblicken. Das liegt an der Eigendynamik des Systems: Dreht man an einer Stellschraube, entsteht an einem anderen Ort ein Rückkoppelungseffekt – oft zeitversetzt. So führt ein Öffnungsschritt Wochen später womöglich zu einer Überlastung der Intensivstationen in den Spitälern.

Modell, um Impfdosen fair zu verteilen

Mit den Mitteln der Statistik lassen sich solche Fragen nicht beantworten. Es braucht bei derart komplexen Fragestellungen ein Modell, das in der Lage ist, mit Simulationsrechnungen die Erkenntnisse und Zahlen zu liefern, welche für den Entscheid wichtig sind. Als Physiker am ZHAW Institut für Angewandte Mathematik und Physik ist Professor Rudolf Füchslin genau darauf spezialisiert: komplexe Systeme in Modellen abzubilden. Das tat er schon für unterschiedliche Anwendungsgebiete. So entwickelte er zum Beispiel mal ein Modell zur Optimierung bestimmter Maschinentypen im Strassenbau. Ein anderes hatte zum Ziel, mit neuen Erkenntnissen der Systembiologie medizinisches Krafttraining zu verbessern. Und da war auch ein zusammen mit der ETH Zürich entwickeltes Modell, das untersuchte, wie im Fall einer Influenza-Pandemie eine begrenzte Anzahl von Impfdosen fair verteilt werden könnte. Das sei 2017 gewesen, sagt Füchslin, «eine Schubladenstudie». Sie trug den Titel «Prioritätenliste und Kontingentberechnung – Pandemievorbereitung in der Schweiz».

«Das geschah im Hintergrund, quasi im Sinne einer Zweitmeinung zu den Einschätzungen der wissenschaftlichen Taskforce.»

Rudolf Füchslin, Institut für Angewandte Mathematik und Physik

Gut zwei Jahre später verbreitete sich aus China ein neuartiges Coronavirus – und Füchslin war mittendrin im Strudel der Covid-19-Pandemie und der Prognosen, Horrorszenarien und Beschwichtigungen. Das Bundesamt für Gesundheit benötigte dringend ein quantitatives Modell, um mit Simulationen die unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten und ihre Folgen auf die Ausbreitung des Coronavirus abzubilden. Es sollte neben epidemiologischen Faktoren auch soziale Kriterien berücksichtigen. Das Modell hatte zunächst die Aufgabe, die Eidgenössische Kommission für Impffragen beim Entscheid zu unterstützen, wer in welcher Reihenfolge Zugang zur Impfung erhalten soll. Später zeigte es dem Bund die Auswirkungen von neuen Virus-Varianten oder Auffrischungsimpfungen auf und lieferte schliesslich Entscheidungskriterien für die Aufhebung von Massnahmen. Das geschah im Hintergrund, quasi im Sinne einer Zweitmeinung zu den Einschätzungen der wissenschaftlichen Taskforce, deren Mitglieder im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit standen und sich zum Teil meinungsstark in den Medien äusserten.  

Was heisst fair?

Schon zehn Tage nach Verhängung des Lockdowns im März 2020 hatten Füchslin und sein Team von der ZHAW grünes Licht erhalten, das Transdisciplinarity Lab der ETH sowie die Firma IQVIA beteiligten sich wiederum am Projekt. Vorgabe bei der Influenza-Studie von 2017 war die «optimale Wirkung unter Berücksichtigung von Fairnessaspekten» der Impfstrategie gewesen – kein leicht fassbares Kriterium. «Heisst das möglichst wenig Tote? Oder geht es um möglichst wenig Produktivitätseinbussen durch Krankheitstage in der Wirtschaft?», verdeutlicht der Professor das Spannungsfeld. Und wenn man davon ausgeht, dass die Schwächsten zuerst geschützt werden sollen: Wie geschieht das am besten? Eine Variante ist es, die Gruppe der Betagten und chronisch Kranken mit geschwächtem Immunsystem zuerst zu impfen. Allerdings wirkt bei ihnen die Impfung weniger gut. Oder man impft zuerst die «Verteiler» des Virus, also die aktive mittlere Generation. Damit lässt sich die Ausbreitungsdynamik wirksam brechen, was die Schwächsten gut schützt, aber nur indirekt. Ethisch problematisch daran ist, dass zuerst Menschen eine Impfung erhalten, die selbst kaum gefährdet sind. Welche Lösung ist die richtige? Die Studie von 2018 verzichtete interessanterweise darauf, eine Vorgehensweise zu favorisieren. Vielmehr zeigte sie sieben Impfstrategien und ihre Auswirkungen auf.

«Es geht um einen zentralen Grundsatz: Give options, not advice!»

Rudolf Füchslin, Institut für Angewandte Mathematik und Physik

Das neue Corona-Modell fiel selbstredend komplexer aus. Hinzu kamen bislang unvorstellbare Massnahmen wie eine Maskenpflicht oder Lockdowns und ständig aufdatierte Erkenntnisse über das neuartige Virus oder seine Subtypen sowie über die Ansichten in der Bevölkerung, die mittels Befragungen erhoben wurden. Auch die Möglichkeit, dass eine Person das Virus schon tagelang weitergibt, bevor sie selbst Symptome hat, kam erschwerend hinzu. Als Resultat gab es auch diesmal keine Empfehlung für die Impfkommission, sondern eine Darstellung verschiedener Varianten mit den jeweils erwarteten Folgen.

Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik

Warum so zaghaft? Erlaubte die «Interventionsmodellierung Plus», wie das Projekt hiess, keine klarere Aussage? Rudolf Füchslin lacht. Der Grund sei ein anderer, sagt er: «Es geht um einen zentralen Grundsatz: Give options, not advice!» Die Wissenschaft befasse sich mit Sachfragen und zeige Handlungsmöglichkeiten auf. Sie gebe keine Ratschläge, schon gar nicht würde sie entscheiden, was zu tun ist, und sie könne nicht die definitive Lösung liefern. Für Wertefragen und die politische Entscheidung seien in der Folge demokratisch legitimierte Institutionen zuständig. Seiner Meinung nach sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht vorsortieren: «Wir tragen ja die Verantwortung nicht, und eine klare Arbeitsteilung gibt uns auch die Freiheit, ohne Scheuklappen mögliche Lösungswege zu suchen.» Füchslin betont zugleich, dass der intensive Austausch mit den Verantwortlichen des Bundesamts viel zu einem allseitigen Erkenntnisprozess beigetragen hat. Die Impfkommission entschied sich schliesslich dazu, die Covid-19-Impfung zuerst in Pflegeheimen zu ermöglichen und anschliessend prioritär Betagten und anderen Risikogruppen zur Verfügung zu stellen. Diese Strategie schnitt im Modell dann am besten ab, wenn man die Vermeidung von Todesfällen als höchstes Ziel definierte.

Unterschiedliche Datenqualität

Es sei im Übrigen wichtig, die Möglichkeiten von Modellen realistisch einzuschätzen, gibt der Physiker zu bedenken. Oft werde eine Vorhersage wie bei der Wetterprognose erwartet: Regen am Donnerstag um 19 Uhr. Angesichts der grossen Mengen von – zum Teil widersprüchlichen – Daten mit unterschiedlicher Qualität und Auflösung seien solche Prognosen nicht möglich, sagt Füchslin. Hingegen können Modelle sehr gut mit Simulationen die Dynamik des Geschehens sichtbar machen und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Man schaut: Was passiert bei den einzelnen Parametern? Dann beginnt man überhaupt erst zu verstehen, wie eine Pandemie eigentlich abläuft. Dieses Verständnis sei wichtiger als die einzelnen Prognosen oder der Worst Case. Natürlich könne man ein Coronavirus simulieren, das so ansteckend wie Masern und tödlicher als Ebola wäre. Das befriedige vielleicht einen gewissen Hang zum Desaster, ergebe aber keinen Sinn. «Corona hat gezeigt, dass es in der modellbasierten Entscheidungsunterstützung wichtig ist, die Erwartungshaltung von Politik, Medien und Wissenschaft zu reflektieren», resümiert Füchslin. Dazu gehöre auch die Frage, wie man im transdisziplinären Kontext kommuniziert und Narrative entwickelt, um auch komplizierte Sachverhalte zu vermitteln.

Weniger ist mehr

Jedes Modell erzählt eine Geschichte. Sie hängt nicht zuletzt von den Daten ab, die zur Verfügung stehen. Nach Alter aufgelöste  Daten erlauben Aussagen, ob Corona eher Ältere oder Jüngere trifft, sozioökonomische Daten werden eine andere Geschichte erzählen. Entscheidend ist deshalb, die Datenquellen vorsichtig auszuwählen. Bei der Konzeption eines Modells besteht die Kunst paradoxerweise nicht darin, die Realität möglichst komplett abzubilden. Weniger ist mehr. «Es geht darum, das Modell auf jene Inputdaten auszurichten, die mit vertretbarem Aufwand und in genügender Genauigkeit erhoben werden können», erläutert Professor Füchslin. Ein knappes Modell, das auf einer guten Datenlage aufbaut, liefert zuverlässige Aussagen. Ein allumfassendes Modell ist anfällig für Verzerrungen. Der Grund: Es basiert auf Schätzungen, wo keine Daten verfügbar sind. Auch auf Künstlicher Intelligenz basierende Modelle gewisser Exponenten scheiterten. Warum? KI funktioniere nur, wenn man grosse Mengen an Daten habe, sagt Füchslin, «und das neuartige Coronavirus zeichnete sich ja gerade durch die vielen Unbekannten und eine lückenhafte Datenlage aus».

Dass sich die Konzeption der «Interventionsmodellierung Plus» bewährte, zeigen die im Mai 2021 beschlossenen Öffnungsschritte. Der Bundesrat stützte sich dabei in seinem Bericht massgeblich auf die Berechnungen des Teams um Rudolf Füchslin, seiner Kollegen der ETH und von IQVIA. Die wissenschaftliche Taskforce hingegen schätzte damals die Situation deutlich pessimistischer ein. Ihren Unkenrufen zum Trotz brach das Gesundheitssystem nicht zusammen. In der Schweiz gelang der Ausstieg aus den belastenden Corona-Massnahmen recht gut – und deutlich früher als in den umliegenden Ländern.

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