open science in der praxis

«Von Open Science profitieren Wissenschaft und Gesellschaft»

29.11.2024
2/2024

Publikationen, Forschungsdaten oder Lehrmaterialien: Hochschulen müssen heute unter dem Postulat der offenen Wissenschaft die Ergebnisse ihrer Tätigkeit frei zugänglich machen. Diese Öffnung ist von der Wissenschaft, der Politik und der Gesellschaft gewünscht – doch nicht ganz einfach umzusetzen, erzählen ZHAW-Fachleute im Gespräch. 

Die ZHAW bekennt sich seit 2018 zu Open Science. Wie nehmen Sie diesen Kulturwandel in Ihrer täglichen Arbeit wahr?

Julia Krasselt: Einige meiner Projekte setzen sich gezielt mit offenen Forschungsdaten auseinander, etwa das Projekt Swiss-AL, eine Sprachdatenbank, die mit Forschenden aus anderen Disziplinen geteilt werden soll. Ich finde, Open Science bereichert die interdisziplinäre Zusammenarbeit, aber für Forschende kommen viele neue Themen hinzu wie Datenschutz, Urheberrechte, die Wahl von Repositorien* und Datenformaten.

Gabriela Lüthi: Wir beraten Forschende und Dozierende rund um das Thema Open Science, etwa bei der Wahl von Publikationsgefässen und bei Finanzierungsanträgen für Open Access. Wenn wir frühzeitig eingebunden werden, sparen die Forschenden viel Zeit und können unsere umfangreiche Expertise rund um Open Science gezielt nutzen.

Claudio Cometta: Ich bin am Thema Open Science generell sehr interessiert, denn in meinem Team forschen und publizieren wir viel. Wir beschäftigen uns aber vor allem mit Open Innovation. Der Zusammenhang von Open Innovation mit der Open-Science-Bewegung wird sehr kontrovers diskutiert. Von offener Innovation wird in erster Linie gesprochen, wenn Unternehmen ihre Innovationsprozesse über die Grenzen der eigenen Organisation hinaus gestalten. Hochschulen können hier als Innovationspartner eine wichtige Rolle spielen.

Eine offene Wissenschaft klingt nach einem hehren Ziel. Aber widerspricht sie nicht dem, was für Forschende bisher als erfolgreiches Publizieren galt?

Krasselt: Es ist ein Stereotyp, dass Forschende ihre Ergebnisse und Daten geheim halten, aus Angst, dass andere noch etwas Besseres daraus machen könnten. Gerade in der Angewandten Linguistik gab es schon Vorreiterprojekte, bevor es den Begriff Open Research Data überhaupt gab. Zum Beispiel Sprachdatensammlungen – sogenannte Korpora –, die für die Forschungsgemeinschaft erstellt wurden, weil man weiss, dass diese Daten ganz unterschiedliche Fragen beantworten können, etwa zu Grammatik oder zum Sprachgebrauch.

Cometta: Forschungsdaten zu teilen, steht in keinem Widerspruch zu erfolgreichem Publizieren – es ist eher sogar eine Voraussetzung dafür. Wir sind seit Jahren in der nichttechnischen Energieforschung aktiv und sind dort oft in Forschungskonsortien mit anderen Hochschulen und Partnern aus der Wirtschaft eingebunden. Häufig ist das Teilen von Daten eine Bedingung dafür, dass man in solchen Konsortien mitmachen kann.

Lüthi: Derzeit sind rund 60 Prozent der wissenschaftlichen Publikationen der ZHAW öffentlich zugänglich. Nimmt man nicht unabhängig begutachtete Publikationen dazu, sind es sogar 70 Prozent. Wir können stolz sein auf diese Zahlen, aber man darf nicht vergessen, dass die Open-Access-Bewegung schon 20 Jahre alt ist.

Das Ziel der nationalen Strategie war, dass Ende 2024 alle Ergebnisse von staatlich geförderten Projekten öffentlich sind.

Lüthi: Das ist eher unrealistisch, aber wir sind auf gutem Weg. An der ZHAW sind in den Disziplinen Engineering und Life Sciences bereits 85 Prozent der Artikel öffentlich zugänglich, in den Sozialwissenschaften etwa 66 Prozent. Ein höherer Anteil wäre möglich, aber Forschende stehen auch unter Druck, nicht irgendwo zu publizieren, sondern in angesehenen Zeitschriften.

«Einige Open-Science-Prinzipien sind aktuell nur bedingt mit rechtlichen Rahmenbedingungen vereinbar.»

Julia Krasselt, Professorin für digitale Linguistik

Mit Open Science kam ein Paradigmenwechsel in der Finanzierung der Fachliteratur: Nicht mehr das Lesen kostet, sondern das Publizieren. Begibt man sich dadurch nicht in eine Abhängigkeit von den Wissenschaftsverlagen?

Lüthi: Früher zahlten wir für das Lesen mit Abonnements, jetzt haben wir sogenannte Read-&-Publish-Vereinbarungen* mit Verlagen. Wir können die Zeitschriften und Beiträge also lesen und in gewissen Zeitschriften auch publizieren, das Publizieren ist aber kontingentiert. Man glaubte, die Open-Access-Bewegung sei der Ausweg aus den immer teurer werdenden Subskriptionspreisen. Aber mit den R&P-Vereinbarungen stützen wir natürlich die Grossverlage wie Elsevier, Springer oder Wiley weiter und sind abhängig von ihnen. Es gibt aber auch eine Alternative, sogenanntes Diamond Open Access. Dabei kostet weder das Lesen noch das Publizieren, sondern Förderorganisationen finanzieren Plattformen, auf denen publiziert werden kann.

Das würde die Machtstellung der traditionellen Zeitschriften relativieren.

Lüthi: Ja. Der Schweizerische Nationalfonds hat dieses Jahr kommuniziert, dass er die R&P-Verträge nicht weiter im gleichen Mass fördern will. Es dauerte auch lange, bis der Deal zwischen swissuniversities und Elsevier zustande kam. Als Hochschule muss man Haltung einnehmen und sich überlegen, ob man alternative Wege einschlägt. Wären wir bereit gewesen, nicht mehr in Elsevier publizieren zu können?

Cometta: Ich glaube, die Hürde wäre sehr hoch. Wenn man bei den grossen Playern nicht mehr publizieren kann, hat man als Hochschule ein Problem. Forschende wählen ihr Publikationsgefäss nicht nach Verlag aus, sondern nach der Relevanz des einzelnen Journals.

«Forschungsdaten zu teilen, steht in keinem Widerspruch zu erfolgreichem Publizieren – es ist eher sogar eine Voraussetzung dafür.»

Claudio Cometta, Leiter Team Innovation Systems an der School of Management and Law

Die nationale Open-Research-Data-Strategie verfolgt das Ziel, auch Forschungsdaten frei zugänglich zu machen. Staatliche Forschungsförderer wie der SNF oder Innosuisse verlangen dies bei ihren Projekten. Ist dies für eine Fachhochschule mit Industriepartnerschaften erstrebenswert oder läuft man damit Gefahr, diese zu verlieren?

Cometta: In den Wirtschaftswissenschaften gab es diese Interessenskonflikte mit Industriepartnern schon vor Open Science, zum Beispiel bei klassischen Innosuisse-Projekten, die ja Innovation in der Wirtschaft fördern sollen, aber gleichzeitig forschungsbasiert sind. Die Lösung ist: Bei jedem Projekt muss man sich individuell auf den Grad der Offenheit einigen.

Lüthi: Es gilt abzuschätzen, welche Daten für die Öffentlichkeit relevant sind. Alle Daten vollständig offenzulegen, wäre nicht im Interesse der ZHAW. Auch hier erspart man sich viel Aufwand, wenn man sich vom Servicecenter Forschungsdatenmanagement beraten lässt und von vornherein systematisch mit einem Datenmanagementplan vorgeht. An der ZHAW sind wir zentral und dezentral organisiert: Neben den Kompetenzzentren für Open Access, Open Educational Resources und dem Team ZHAW Services Forschungsdaten gibt es auch in den Departementen Verantwortliche für Forschungsdaten, die Forschende im Thema Open Data unterstützen. Das ist wichtig, denn es gibt selten eine Lösung, die für alle gilt. Die Fragen sind oft sehr fachspezifisch.

Also ist die Bereitschaft, Forschungsdaten frei zugänglich zu machen, grundsätzlich da?

Cometta: Absolut. Hürden sind vor allem der Datenschutz oder der Mehraufwand – das ist vielleicht eine Erklärung dafür, wieso Open Science in den Sozialwissenschaften noch weniger verbreitet ist als in den MINT-Disziplinen: Je weniger standardisiert oder je heterogener die Daten, desto grösser der Aufwand, diese zugänglich zu machen. Man muss sie aufbereiten und Kontext mitliefern, das ist enormer Zusatzaufwand.

Krasselt: Open Science wird erst seit Kurzem überhaupt bei der Planung von Forschungsprojekten berücksichtigt – hier ist sicher noch Luft nach oben. Bei einer Zusammenarbeit in einem Konsortium ist es wichtig, dass man das Vorhaben von Anfang an richtig aufsetzt und sich über die Governance unterhält. Schön ist, dass man sich dank der aktuellen Förderung von swissuniversities* auf solche Aspekte konzentrieren kann. Vorher war es schwierig, Open Science bei der Budgetierung von Projekten zu berücksichtigen.

Lüthi: Die Fördergelder sind wichtig als Initialzündung. Wir müssen uns aber auch überlegen, wie man die Praxis in Zukunft etabliert. Wenn sich die Hochschulen zu Open Science bekennen, müssen sie auch Ressourcen oder Unterstützungsangebote dafür bereitstellen.

Der SNF hat im Sommer darüber informiert, dass erst bei etwa 23 Prozent der von ihm geförderten Projekte Forschungsdaten publiziert werden. Woran könnte das liegen?

Lüthi: Ich denke, vielen fehlt noch das Wissen, welche Daten sie wie offenstellen dürfen, und sie befürchten, etwas falsch zu machen. Es können aber auch datenschutzrechtliche, vertragsrechtliche oder kommerzielle Gründe gegen eine Publikation sprechen.

Krasselt: Einige Open-Science-Prinzipien sind aktuell nur bedingt mit rechtlichen Rahmenbedingungen vereinbar. Bei unserem Projekt Swiss-AL können wir die Daten beispielsweise nicht einfach auf ein Repositorium stellen, weil es urheberrechtlich geschützte Texte sind. Bei internationalen Projekten gibt es manchmal auch unterschiedliche rechtliche Rahmen. Meist nimmt man dann die strengeren Regeln, was der eigenen Open-Research-Data-Strategie zuwiderlaufen kann. Wichtig ist, dass jetzt nicht parallel nach Lösungen im Kleinen gesucht wird, sondern dass in einem grösseren Gremium Good Practices für den Umgang mit Forschungsdaten erarbeitet werden – in den Sozial- und Geisteswissenschaften ist das bereits der Fall.

Lüthi: Bei Open Research Data sind wir noch in der Aufbauphase. Gute Lösungen zu finden, ist nicht ganz ohne: Man muss eine nationale Infrastruktur schaffen, die sowohl der Disziplin, aber auch internationalen Standards gerecht wird, damit die Daten austauschbar sind. Eine einzelne Institution kann das nicht stemmen. Das müssen nationale Konsortien sein mit internationalen Vernetzungen. Die aktuelle Förderung durch swissuniversities trägt dieser Aufgabe Rechnung.

«Die Hochschule darf die Forschenden mit den neuen Anforderungen nicht alleine lassen.»

Gabriela Lüthi, Leiterin Hochschulbibliothek

Wer profitiert am meisten von Open Science?

Cometta: Die Wissenschaft und die Allgemeinheit profitieren sicher. Bei Open Access sind es vor allem Hochschulen aus dem globalen Süden, die sich den Zugang zu Fachzeitschriften vorher nicht leisten konnten. Ausserdem forschungsnahe Institutionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse verwenden und multiplizieren.

Lüthi: Die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel: Sämtliche Forschungsergebnisse wurden frei zugänglich publiziert, denn es war von globalem Interesse, das Virus zu bekämpfen. Davon haben alle profitiert: die Wissenschaft, aber auch die Gesellschaft, denn die Impfstoffe wurden enorm schnell entwickelt.

Wenn man vom Grundgedanken von Open Science ausgeht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse der Allgemeinheit gehören: Sind wissenschaftliche Magazine, die meist in Englisch sind, der richtige Zugang für die breite Öffentlichkeit?

Krasselt: Ich finde nicht. Die Daten sowie Forschungsergebnisse müssen ganz anders aufbereitet werden. Ein schönes Beispiel ist das «Wort des Jahres Schweiz», wofür die Sprachdatenbank Swiss-AL genutzt wird. Es ist ein öffentlichkeitswirksames Projekt, bei dem wissenschaftlich fundiert erhoben wird, welche Wörter in den vier Landesprachen der Schweiz gesellschaftliche Entwicklungen eines Jahres widerspiegeln.

Lüthi: Ich glaube auch, dass wissenschaftliche Erkenntnisse sich nicht nur über Publikationen und Open Research Data verbreiten. Es braucht niederschwellige Angebote. Die Hochschulbibliothek steht zum Beispiel der Allgemeinheit offen, und wir führen auch öffentliche Veranstaltungen zu wissenschaftlichen Themen durch. Die ZHAW ist ausserdem Mitglied der europäischen Coalition for Advancing Research Assessment CoARA*. Dort geht es unter anderem darum, dass Forschende Open Science mehr mitdenken, also mehr Beiträge zur Wissenschaftskommunikation und Politikberatung leisten, und dass solches Engagement mehr Wertschätzung in der Evaluation ihrer Leistung erfährt. Wissenschaftskommunikation ist aber für viele Forschende eine Herausforderung.

Cometta: Wenn ich sehe, wie Social Media als Multiplikator für Forschungsergebnisse genutzt wird, glaube ich, dass die jüngere Generation von Forschenden ein ganz anderes Selbstverständnis und mehr Bewusstsein dafür hat, dass ein Transfer stattfinden muss.

Krasselt: Neulich auf einem Workshop sagten einige ältere Forschende, sie hätten Mühe mit den neuen Anforderungen. Es wird heute schon fast vorausgesetzt, dass man Programmierkenntnisse hat und auch auf Social Media aktiv ist. Open Science stellt viele Anforderungen, und ich glaube, die Generationen nehmen diese sehr unterschiedlich wahr.

Lüthi: Die Hochschule darf die Forschenden mit diesen neuen Anforderungen nicht alleine lassen. Es müsste Zeitgutschriften dafür geben, dass man sich damit auseinandersetzt, oder zumindest Weiterbildungsmöglichkeiten.  

 

Glossar

Repositorium

Ein öffentlich zugängliches elektronisches Archiv zur Speicherung und Veröffentlichung von Beiträgen in wissenschaftlichen Publikationen oder Forschungsdaten. Repositorien können unterschiedlich betrieben werden, z. B. nach Fachbereich, institutionell, national oder international.  

Read-&-Publish-Vereinbarungen (R&P)

Vereinbarungen zwischen wissenschaftlichen Verlagen und Forschungsinstitutionen, die den Zugriff auf die abonnierten Zeitschriften (Read) sowie das Recht auf das Publizieren in diesen (Publish) regeln

Förderung von swissuniversities

Die Dachorganisation der Schweizer Hochschulen swissuniversities fördert derzeit im Rahmen der Open-Research Data-Strategie den Aufbau einer Open-Research-Data-Infrastruktur.   

CoARA (Coalition for Advancing Research Assessment)

Internationale Initiative mehrerer hundert Organisationen, die sich dafür einsetzt, dass die Bewertung von Forschung sachgerechter gestaltet wird, etwa indem vielfältigere Leistungen und Beiträge im Fokus stehen als derzeit dominante Publikationszahlen und damit zusammenhängende Hochschulrankings. 

Kostentransparenz durch Open APC

Die ZHAW dokumentiert die Gebühren (Article Processing Charges; APC) , die sie für das Open-Access-Publizieren bezahlt, öffentlich. Zur Bezahlung der Publikationsgebühren betreibt die ZHAW-Hochschulbibliothek einen zentralen Open-Access-Publikationsfonds.

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